Malik Verlag (2004)
Gebunden, 172 Seiten, EUR 16,90
ISBN: 978-3-890292878
Genre: Sachbuch
Klappentext
„Von Kindesbeinen an, wenn er zum ersten Mal vernimmt, dass die Hadsch –
die Pilgerfahrt nach Mekka – zu den Pflichten eines jeden Moslems
gehört, sehnt sich jeder Gläubige danach.“
Unter Hunderttausenden moslemischer Pilger hatte der Schriftsteller
Ilija Trojanow 2003 an der Hadsch, der größten Glaubensbezeugung des
Islam, teil [genommen]. An einem Morgen im Januar legt er in Bombay
unter Anleitung seiner Freunde den Ihram, das traditionelle
Pilgergewand, an und steigt in die Maschine nach Dschidda. Wenige
Stunden später ist er in Mekka, nach drei Wochen zurück in Indien.
Dazwischen liegt eine unendliche Fülle von Eindrücken und das
allmähliche Begreifen des Wesens einer Religion zwischen Verheißung und
Realität. Dazwischen liegt das Erleben einer über tausend Jahre alte
Tradition und einer persönlichen Pilgerschaft als Kulmination aller
Sehnsüchte, als einzigartige Auszeit, so reich an Mühsal und Zermürbung
wie an Belohnung und Beglückung.
Ilija Trojanows ebenso aufregender wie poetischer Bereicht steht in der
großen Tradition der Reiseerzählung über die Hadsch: Ein europäischer
Schriftsteller heute vollzieht die innersten Rituale des Islams.“
Rezension
Trojanow berichtet von der Pilgerfahrt nach Mekka, der Hadsch; von
seinen persönlichen Eindrücken und Empfindungen auf dieser spirituellen
Reise, vermischt mit alten muslimischen Sagen und traditionellen
Erzählungen. Im ersten Teil des Buches greift er daneben gelegentlich
zurück, schildert seine ersten intensiveren Begegnungen mit dem Islam
als Englischlehrer einer Gruppe junger Religionsgelehrter in Bombay. Von
diesen Streifzügen abgesehen, führt er den Leser chronologisch durch
den gesamten Prozess der Hadsch; hinein in die ungeheure Menschenmenge,
die jedes Jahr wieder die Kaaba umrundet, die gemeinsam betet und
schwitzt und leidet – und nach spiritueller Erfahrung sucht. Eine
Erfahrung, die Trojanow selbst von Mekka ein Stück weit in den Alltag
hinein mitzunehmen hofft.
Stilistisch bietet er seine Erlebnisse als muslimischer Pilger dem Leser
fast wie kleine Kostbarkeiten dar: sehr anschaulich, bildreich und hoch
poetisch formuliert, glänzende Perlen auf der ausgestreckten
Handfläche. Es sind emotionale Schilderungen, auf den ersten Blick
durchaus dazu angetan, sich schnell hineinziehen zu lassen in dieses
ganz persönliche Erleben, diese Unmittelbarkeit. Es gibt Momente, in
denen man beinahe den heißen Staub, den die vielen Leiber aufwirbeln,
auf der Zunge zu schmecken meint und in denen das Getöse der Menge in
den eigenen Ohren zu dröhnen anfangen will.
Und trotzdem beginnt relativ bald, ganz unerwartet, ein
entgegengesetzter Prozess: Anstatt tiefer einzutauchen, sich noch
stärker umfangen zu lassen, ziehen sich die eigenen Gedanken und Gefühle
mit jeder Seite ein klein wenig weiter zurück. Die glänzenden
Sprachperlen in der Hand des Autors scheinen matter zu werden, man
greift verwundert nach ihnen und fasst – ins Leere. Da scheint keine
Substanz zu sein, die sich zur Berührung durch einen Fremden eignete,
kein Gefühl, das sich tatsächlich übertragen ließe. Diese Pilgerreise,
die in Trojanow selbst so starke und dauerhafte Eindrücke hervorgerufen
hat – sie lässt den Leser am Ende etwas ratlos zurück, fast gänzlich
unberührt und unverändert.
Diese Ratlosigkeit speist sich aus zwei verschiedenen Quellen. Zum einen
liegt es an den Inhalten des Reiseberichts selbst. Man stellt relativ
bald fest, dass die Schilderungen der Hadsch wie auch der Umgebung, in
der sie sich abspielt, im Grunde nichts wirklich Neues, schlimmer:
nichts wirklich Interessantes enthalten. Es ist heiß, es ist staubig.
Man wartet, man betet, man drängt sich umeinander, im einen Moment jeder
des anderen ärgster Feind, im nächsten dem Nachbarn nah und verbunden.
Rituale werden zelebriert, so penibelst genau wie unter den Umständen
nur möglich. Der Anblick der großen islamischen Heiligtümer, das Erleben
der Gemeinschaft, lösen euphorische, beinahe ekstatische Gefühle aus.
Ja, möchte man sagen, und was weiter? Jeder Fußballfan, jeder
Rockkonzertfreund kennt solche Gefühle von Aufgelöstheit, seeligem
Aufgehobensein. Was ist nun das Besondere an dieser Reise? Dass sie in
einer Umgebung stattfindet, die den meisten europäischen Lesern fremd
ist? Aber die Beschreibungen der Orte und der Menschen kommen inhaltlich
an vielen Stellen kaum über altbekannte Reiseführerfloskeln hinaus,
auch wenn sie sehr schön formuliert sind. Dass die Reise mit
Religiosität verknüpft ist? Vielleicht – Religion ist im heutigen,
weitgehend säkulären Westeuropa keine alltägliche Erfahrung mehr.
Aber gerade an dieser eigentlich sehr interessanten Stelle fehlt – und
dies vertieft die große Ratlosigkeit – jede Verknüpfung zwischen
Trojanow, dem hingebungsvollen Pilger, und seinem säkulären Leser. Sie
fehlt umso mehr, als aus dem Buch selbst heraus völlig unklar bleibt,
welche Position der Autor eigentlich dieser Religion, die ihn so
hinreißt, gegenüber hat – und als jede auch nur ansatzweise kritische
Auseinandersetzung mit ihr, mit Religion an sich, unterbleibt. Trojanow
beschreibt seine Reise nicht wie ein „europäischer Schriftsteller“, auch
nicht wie ein „Suchender zwischen den Kulturen und Religionen“ (Zitat
aus der Autorenbeschreibung) – er beschreibt sie aus einer einzigen
Perspektive, der des bedingungslosen Gläubigen. Er fragt nicht danach,
warum bestimmte Gebete vierzig, sechzig, einhundertmal gesprochen werden
müssen, warum zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte Geste so und
nicht anders ausgeführt werden muss. Er erklärt nicht, warum aus diesen
traditionellen Ritualen für ihn eine so tief empfundene spirituelle
Erhebung fließt.
Nichts macht dieses Grundproblem des Buches deutlicher als das Zitat im
Klappentext über „jeden Gläubigen“, der sich nach der Hadsch sehnt,
sobald er erfährt, dass sie zu den Pflichten eines Muslims gehört.
Sehnsucht aus Pflichtgefühl? Ein Widerspruch, der nur durch ein näheres
Eingehen auf die dahinter stehenden tieferen Beweggründe und religiösen
Empfindungen aufzulösen wäre. Genau diese Auflösung erfolgt jedoch
nicht.
Trojanow glaubt, er fühlt, man spürt die Ehrlichkeit in jeder Zeile, und
doch bleibt man allein zurück, ohne Brücke zu ihm und zu den
Hunderttausenden, die den schwarzen Block umrunden. Allein mit eben
jener Ratlosigkeit und Unberührtheit – und sogar einem gewissen Ärger.
Ärger über das Fehlen jedes tiefer gehenden Widerspruchs, jeder scharfen
Kante; über die letztlich blassen Farben der Umgebung; und vor allem
über die Unbekümmertheit und Selbstsicherheit, mit der der Autor sich in
seiner eigenen Hingerissenheit vom Leser entfernt. Die Hand ist nicht
ausgestreckt, um den Leser mit sich zu ziehen. Sie präsentiert nur die
schimmernden Perlen, wie verlockend, und wenn sie sich dann in Nichts
aufzulösen beginnen – dann liegt er wirklich in der Luft, der Staub, der
die Sicht nimmt, anstatt sie zu klären, und in dem nichts Greifbares
enthalten ist.
Fazit
Trojanows Bericht ist ein zutiefst persönliches Buch, emotional und in
poetischer Sprache formuliert und von spürbarer Ehrlichkeit. Aber gerade
aufgrund seiner höchstpersönlichen Art bleibt es dem Leser letztlich
fremd. Die religiöse Hingabe und Begeisterung, die Trojanow empfindet,
überträgt sich nicht, sie wirft stattdessen Fragen auf, die sämtlich
unbeantwortet bleiben. Es mag durchaus ein wunderbares, ein fesselndes
Buch sein für jemanden, der Trojanows Erfahrungen selbst gemacht hat
oder noch zu machen hofft. Für kritische Leser ohne vorherige eigene
Beziehung zum Islam bleibt es ein schwaches Winken hinter einer Tür, die
sich bereits wieder schließt, bevor sie sich richtig geöffnet hat.
Pro und Kontra
+ interessante Thematik
+ sehr schöne Sprache
+ emotional
+ gut zu lesen
- oft klischeehaft
- in wesentlichen Dingen völlig unkritisch
- ohne Bezug zu einem modernen, säkulären Leser
- das implizite Versprechen eines besseren Zugangs zum Islam bleibt unerfüllt
- Klappentexte teilweise fehlerhaft, unsauber geschrieben
Wertung:
Inhalt: 2/5
Aktualität: 5/5
Verständlichkeit: 5/5
Informationsgehalt: 1/5
Lesespaß: 2/5
Preis/Leistung: 4/5