Dirk Bernemann (19.03.2011)

Interview mit Dirk Bernemann

Literatopia: Moin Dirk! Schön, dass Du erneut etwas Zeit für unsere Fragen hast. Seit dem letzten Interview ist eine Menge Zeit vergangen und bei Dir hat sich viel getan – gib unseren Lesern doch einen kurzen Überblick, was genau bei Dir so passiert ist.

Dirk Bernemann: Literarisch ist einiges passiert. Es gibt zwei neue Veröffentlichungen, im Oktober 2010 erschienen mein misantrophischer Roman "Vogelstimmen" und gerade Mitte Februar ist "Ich hab die Unschuld kotzen, Teil 3" erschienen. Zwei durchaus verschiedene, dennoch aber typische Bernemann-Bücher.

Literatopia: Wie bereits die ersten beiden Teile ist auch "Ich hab die Unschuld kotzen sehen Teil 3" am 14. Februar erschienen. Abgesehen vom Valentinstag: Was hat es mit diesem Datum auf sich? Willst Du eine bestimmte Botschaft an Deine Leser vermitteln?

Dirk: Ja, natürlich, obwohl Botschaften bei mir manchmal unbeabsichtigt sind und sich einfach direkt durch mein Denken in meine Texte schleichen. Aber es gibt wichtigeres als einen Valentinstag und seine mediale und ökonomische Ausschlachtung, z. B. meine Bücher. Diese sind nämlich so vollgepackt mit Liebe, dass Blumen und Pralinen überflüssig werden. Bernemann-Reading is the new Blumenstrauß.

Literatopia: Zwischen dem zweiten und dem dritten Teil sind nun eine weitere Kurzgeschichtensammlung sowie zwei Romane erschienen. Warum liegt so viel Zeit zwischen den Unschuld-Bänden? Hast Du Dich derart weiterentwickelt, dass es spürbare Unterschiede zwischen den ersten beiden und dem dritten Band gibt?

Dirk: Der aufmerksame Leser merkt das sofort, dass ich mit Abschluss der Trilogie auch mehr an Tiefe in die Texte lasse. Das ist ja keine Fast Food Literatur, sondern eine Delikatesse aus Wörtern und Satzzeichen. Die Zeit zwischen Teil 2 und 3 ist deswegen so lang, weil die Texte erst noch reifen mussten, teilweise sind sie schon ein wenig älter.

Literatopia: "Ich hab die Unschuld kotzen sehen 3" wird Dein letztes Buch beim UBooks-Verlag sein. Schon Dein nächster Roman soll voraussichtlich im Herbst 2011 beim neuen Unsichtbar-Verlag erscheinen. Wie kam es zum Wechsel und wie wichtig ist Dir der "Unschuld"-Abschluss beim Ursprungsverlag?

Dirk: Damit klappe ich schon ein Kapitel in meiner Schriftstellerlaufbahn zu und gleichzeitig fange ich ein neues an. Die Zeit ist reif für einen Umbruch, auch meinerseits. Neuer Verlag, neue Möglichkeiten. Der Wechsel kam zustande, da der für mich zuständige Verleger bei UBooks den Unsichtbar-Verlag ins Leben gerufen hat und ich das Konzept und die Aufstellung, sowie auch die Präsentation dieses Verlages für mich passend fand.

Literatopia: In Deinen beiden bisher erschienenen Romanen hast Du Dich mit Themen auseinandergesetzt, derer sich nur wenige Autoren annehmen. Was fasziniert Dich so an diesen "Schlupflöchern" und worauf dürfen sich Deine Fans im nächsten Roman freuen? Und gibt es schon einen Titel oder eine Covergestaltung?

Dirk: Der neue Roman ist so gut wie fertig und natürlich ist er richtig gut geworden. Stell dir drei Personen ganz unterschiedlichen Backgrounds vor, die sich verhalten wie Regentropfen auf einer Fensterscheibe. Zunächst laufen sie in verschiedene Richtungen und schlussendlich zu etwas größerem zusammen. Es ist ein Schicksalsbuch, eine Geschichte dreier Personen, denen Dinge widerfahren, die ganz verschiedenen Auswirkungen auf sie haben. Und ein Typ namens Gott spielt auch eine gewisse Rolle. Das Buch wird "Jeder für sich und Gott gegen alle" heißen.

Literatopia: Im Oktober 2010 erschien Dein zweiter Roman "Vogelstimmen", der sich mit dem schwierigen und erstaunlich vielseitigen Thema der Vergänglichkeit befasst. Manche Leser und Kritiker dichten Dir hier viele autobiografische Komponenten an. Hand aufs Herz: Wie viel Dirk steckt wirklich in diesem Protagonisten?

Dirk: Der anonyme Protagonist ist eine rein fiktive Figur.

Literatopia: Bleiben wir doch direkt bei besagtem Protagonisten. In "Vogelstimmen" verbindet die Hauptperson mehrere Handlungsstränge zu einem Wirrwarr aus Emotionen und Gedanken. Hinzu kommen persönliche Schicksalsschläge und Rückblenden. Wie ist die Geschichte so komplex geworden? Hast Du dem Protagonisten irgendwann einfach machen lassen?

Dirk: Ja, der Mann hat sich beim Schreiben quasi selbst erfunden. Irgendwann hat er sich in meinem Kopf verselbstständigt und sein depressives Leben an sich gerissen, wodurch er sich am Ende des Buchs sogar befreien konnte. Teilweise ist da ja sehr viel innerer Monolog zu lesen, was darauf basiert, dass der Charakter, den ich erfunden habe maximal introvertiert ist.

Literatopia: Schon die bisherigen Covers waren vielseitig, aber immer provozierend. Das Zusammenspiel von Frühling und Tod auf "Vogelstimmen" hat viele begeisterte Stimmen laut werden lassen. Gab es eigentlich auch mal negative Reaktionen auf die Covergestaltung? Wie gehst Du mit solchen um? Oder gehen die gänzlich an Dir vorbei, weil Du schließlich "nur" den Inhalt lieferst?

Dirk: Natürlich ist das Cover wichtig für das Gesamterscheinungsbild des Buches. Ich selbst habe nur zu dem Schizophren-Buch negative Stimmen gehört, aber das ist ja auch klar, weil da bin ich selbst auf dem Buchdeckel in dreifacher Form zu sehen. Quasi eine Überdosis Egofresse. Sonst habe ich ausschließlich positive Rückmeldungen zu den Covern bekommen.

Literatopia: In jedem Deiner Bücher geht es auf irgendeine Art auch immer um zwischenmenschliche Beziehungen wie Liebe, Familie und Freundschaft – ganz besonders im verwischenden Zusammenspiel und in gnadenlosem Bezug auf die heutige Gesellschaft. Welchen Stellenwert haben diese Dinge für Dich und wie würdest Du die Entwicklung in den letzten Jahren beurteilen? Droht der Welt ein moralischer Verfall und Werteverlust?

Dirk: Ich glaube, wir stehen schon knietief in der Werteverlustscheiße, bzw. in der Werteverschiebungsscheiße. Dadurch, dass die Selbstverwirklichung immer wichtiger wird und Egos aufblasbar wie Luftballons sind werden traditionelle Werte wie Famlie gründen oder Drogenverweigerung in den Hintergrund der Betrachtung gestellt. Wie man sich dem Werteverfall gegenüber positioniert, muß jeder selbst wissen.

Literatopia: Bei Deinen regelmäßigen Lesungen lernst Du ganz verschiedene Menschen kennen, die die Begeisterung für Deine Literatur verbindet. Wie nimmst Du diese Verbindung verschiedenster Charaktere wahr? Macht es Dich eher stolz, als Bindeglied zwischen mitunter völlig gegensätzlichen Lebenseinstellungen zu stehen, wundert es Dich bisweilen oder denkst Du darüber schon gar nicht mehr nach?

Dirk: Darüber denke ich in der Tat nicht nach. Ich finde es aber gut und schön, dass meine Gedanken die Leute immer noch zu interessieren scheinen, das motiviert mich ungemein. Daher liebe Leserinnen und Leser, ich habe euch zu danken.

Literatopia: Welche Lesungsereignisse – vor, auf und hinter der Bühne – sind Dir besonders im Gedächtnis geblieben? Welche Städte und Lokalitäten würdest Du jederzeit wieder besuchen und warum reizen Dich genau diese so besonders? Wie viel Inspiration und Kraft ziehst Du aus den Gesprächen mit Deinen Fans?

Dirk: Ich habe 2008 auf dem Wacken Open Air gelesen, was sehr, sehr lustig war. Da bin ich aufgetreten zwischen einer Stripshow, wo sich ledergesichtige Rentnerprostituierte auf der Bühne mit Kerzenwachs übergossen haben und einem Drumworkshop von irgendeinem total hibbeligen Schlagzeuger. Das war schön, weil echt mal außergewöhnlich. In vielen Städten hatte ich viel Spaß mit den Leuten, da will ich jetzt keine hervorheben. Meine Fans sind mir sehr wichtig. Ohne meine Leser wäre ich irgendein alkoholabhängiger Hobbydichter, der seinen Sauffreunden zwischen zwei Doppelkorn Gedichte vorliest.

Literatopia: In Bezug auf das Thema "Lesungen" möchte ich gerne nochmals auf den abschließenden Band der "Ich hab die Unschuld kotzen sehen"-Trilogie zu sprechen kommen. Oft stolpert man in den Weiten des Internets über Stimmen, die es schade finden, dass die in den Kurzgeschichtensammlungen gedruckten Texte bereits auf Deinem Blog gelesen oder eben auf einer Lesung gehört wurden. Wonach suchst Du Deine Lesungstexte aus – ist das stimmungs- oder themenabhängig oder schaust Du einfach, worauf das Publikum Deiner Ansicht nach Lust hat?

Dirk: Das unterliegt ganz meiner eigenen Stimmung und Befindlichkeit. Ich versuche schon in Städten, wo ich mehrfach lese, verschiedene Programme anzubieten, was auch funktioniert.

Literatopia: Abgesehen von Deinem kommenden Roman – was planst Du noch für die Zukunft? Gibt es vielleicht Projekte mit anderen Autoren, möglicherweise mit Kollegen des neuen Verlages?

Dirk: Noch ist nichts wirklich konkret festgelegt, aber es gibt verschiedene Ideen für neue Projekte und Kooperationen. Z. B. arbeite ich mit einer Designerin an einer Graphic Novel und schreibe an einem Kinderbuch herum.

Literatopia: Dann dürfen wir also weiterhin gespannt sein und müssen uns irgendwie die Zeit bis zum Herbst vertreiben. Für Deine Pläne auf jeden Fall viel Erfolg und Durchhaltevermögen! Danke für Deine erneute Zeit.


Dieses Interview wurde von Jessica Idczak für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.


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(02.09.2009)