Lilach Mer (26.03.2011)

Interview mit Lilach Mer

Literatopia: Hallo Lilach! Schön, mit Dir sprechen zu können. Kürzlich ist Dein phantastischer Roman „Der siebte Schwan“ bei Heyne erschienen. Kannst Du für unsere Leser kurz umreißen, um was es geht?

Lilach Mer: Gerne, ich freu mich immer sehr, wenn ich von meinem „Schwänchen“ erzählen darf. Alles beginnt mit einer rätselhaften Spieluhr, die das Mädchen Mina daheim auf dem Dachboden findet; eine Spieluhr, die düstere Geheimnisse in sich birgt. Sie schickt Mina auf eine Reise durch das Schleswig-Holstein der späten wilhelminischen Zeit – und durch eine fremde, magische Welt, die voller Wunder und Gefahren ist. Auf der Suche nach ihren verschwundenen Zwillingsbrüdern begegnet Mina dem geheimnisvollen fahrenden Volk, sie trifft Nixen und böse Hausgeister, wandert unter den Bäumen des Alten Waldes und reitet auf dem Teufelspferd. Aber je weiter sie kommt, desto mehr muss sie von sich selbst aufgeben. Bis am Ende nichts mehr von ihr übrig zu sein scheint; nichts, womit sie den letzten Kampf um ihre Brüder noch gewinnen könnte. Ihr Gegner hat alle Trümpfe in der Hand – alle, bis auf einen …

Literatopia: Die Geschichte ist im frühen 20. Jahrhundert angesiedelt. Was reizt Dich an dieser Zeit? Und wie umfangreich waren Deine Recherchearbeiten?

Lilach Mer: Oh je, ich fürchte, hier werdet Ihr etwas Geduld mit mir haben müssen; dafür muss ich ausholen.
Diese Zeit hat, glaube ich, für viele Menschen heute einen unbestimmten Charme. Die Moderne zeichnet sich zwar schon deutlich am Horizont ab, aber noch fahren Kutschen auf den Alleen entlang anstelle von Autos – Kutschen mit Frauen in unpraktischen, wunderschönen Kleidern darin, die niemals ohne Hut und Handschuhe vor die Tür gehen würden. Es gibt stolze Gutsherren, schüchterne Dienstmädchen und strenge Mamsellen; jeder kennt seinen Platz, die Welt ist wohlgeordnet. Und gleichzeitig noch so viel größer als heute: Wenn selbst die nächste Stadt Tagesreisen entfernt liegt, erscheint zum Beispiel China wie ein Wunderland, bezaubernd und nicht ganz wirklich. Was man von dort hört, klingt wie ein Märchen und bringt die Menschen zum Schwärmen, nicht dazu, sich über Absatzmärkte, Umweltschutz und Menschenrechte den Kopf zu zerbrechen. All die Dinge, die wir heute wissen und die uns oft dazu zwingen, das Schöne, Wundersame beiseite zu schieben und uns stattdessen auf Probleme zu konzentrieren – sie müssen erst noch geschehen. Es ist die Zeit der letzten Unschuld, wenn man so will. Eine Sehnsuchtszeit, in der alles einfacher war (und es trotzdem schon einigermaßen annehmbare Sanitäreinrichtungen gab); und vieles schöner.

Diese Schönheit ist das eine, was mich angezogen hat – die liebevollen Details der alten Gutshäuser, die leuchtenden Kleiderstoffe; die Vorstellung, übers Land zu fahren und nicht alle zweihundert Meter auf einen Schweinemastbetrieb oder eine Umspannstation zu treffen. Aber unter der Schönheit und der Unschuld liegt etwas anderes, Dunkleres, und mit ihm hat Minas Geschichte eigentlich sehr viel mehr zu tun. Der Erste und der Zweite Weltkrieg und vor allem das, was sich dazwischen entwickelte, sind ja nicht aus dem Nichts heraus entstanden. Viel von dem Grauen, was kommen sollte, hat seine Wurzeln auch in Minas Zeit, in den Einstellungen der Menschen, den festen Hierarchien, der Bereitwilligkeit, alles „Andere“ radikal auszugrenzen. Die psychiatrischen Behandlungsmethoden, die Mina kennenlernt, sind keine wilde Phantasie meinerseits, sondern entsprachen damals der Realität; auch die Geschichte von Zinni, dem Taterjungen, hat sich so oder so ähnlich hundertfach wirklich ereignet. Ich wollte diesem Dunklen, was nach außen mit besten Absichten daherkam, ein wenig nachspüren und gemeinsam mit Mina vielleicht auch herausfinden, wie man sich dagegen wehren kann. Denn eine wohlgeordnete Welt ist, fürchte ich, immer nur um einen bestimmten Preis zu haben – und den zahlen stets die „Anderen“. Es sei denn, sie finden einen Weg, sie selbst zu bleiben.

Was die Recherche angeht, nun, man liest es vielleicht schon ein bisschen aus dem Vorigen heraus: Ich habe wahnsinnig viel Zeit damit verbracht. Habe Bücher gewälzt, Photographien gesammelt, mir Collagen mit Schnittmustern für zeitgemäße Unterröcke an die Wand geklebt – das ganze Programm. Ich will die Zeit und die Umstände spüren können, in denen ich mich dann mit der Geschichte bewege; will nach oben in die Wolken sehen können, die immer gleich bleiben, und das Gefühl haben, dieselbe Luft zu atmen wie meine Figuren. Vorher, denke ich, bin ich nicht in der Geschichte angekommen. Und wie sollte ich dann meinen Lesern davon erzählen?
Das Verfahren hat allerdings schon jetzt zu akutem Platzmangel im Arbeitszimmer geführt. Und ich fürchte, es wird nicht besser werden … ;-)

Literatopia: Die Tater spielen eine zentrale Rolle in Deinem Roman und verleihen ihm mit ihrer Naturverbundenheit eine romantische Note. Was verbindest Du persönlich mit diesen wandernden Völkern?

Lilach Mer: Um an die vorige Frage anzuknüpfen, die Tater – die „Zigeuner“ im alten Plattdeutsch – sind natürlich das sprichwörtliche „Andere“ für die sesshaften Bauern und Gutsbewohner. Und sie bringen zwangsläufig eine völlig andere Lebensweise mit sich. Ich glaube, keiner von uns „statischen Menschen“, die wir schon ächzen, wenn wir einmal in eine andere Stadt umziehen müssen, kann sich wirklich vorstellen, was es bedeutet, ein Leben in ständiger Bewegung zu führen. Das gerade ist natürlich auch der Reiz, es ist eine ganz andere Welt, die sich direkt neben unserer befindet – auch heute noch, obwohl keine bunten Wagen mehr durch die Dörfer ziehen. Aber als Kind im Zirkus, denke ich, spürt man diesen Reiz, diesen Sog, einfach davonzulaufen, sich in einem der Wagen zu verstecken und ein herrlich buntes, aufregendes Leben zu führen. So habe ich die Tater auch gezeichnet, aus ganz kindlicher Sicht. Nur Zinnis Geschichte ist eine behutsame Erinnerung daran, dass die Wirklichkeit natürlich anders aussieht – dass „frei“ eben oft auch „vogelfrei“ bedeutet. Minas Tater sind größtenteils Phantasiewesen, und sie mit der Natur zu verbinden, bot sich geradezu an. Schließlich ist die Natur auch eine Art „Nebenwelt“ neben unserer alltäglichen, in der sich die geheimnisvollsten Dinge abspielen, ohne dass wir es wahrnehmen. Wenn wir sie doch einmal spüren, bringt sie uns in Verbindung mit etwas sehr Großem, Altem, das immer noch da sein wird, wenn sich nicht einmal mehr die Steine an die Menschen erinnern werden. Die Tater sind, wenn man so will, ihre Botschafter in der Alltagswelt.

Literatopia: Du gehörst zu den fünf Finalisten des Heyne Wettbewerbs „Schreiben Sie einen Magischen Bestseller“, deren Romane nun nach und nach erschienen sind. Nachdem der erste Preis an jemand anderen ging – kam die Veröffentlichung Deines Buches überraschend? Oder war relativ bald klar, dass alle Finalistenwerke veröffentlicht werden?

Lilach Mer: Meine Güte, niemand kann sich vorstellen, wie unglaublich erleichtert ich war, dass Victoria mit ihrer wirklich wunderbaren Geschichte den ersten Preis gewonnen hat! Das ganze Finale auf der Buchmesse war einfach entsetzlich für mich, überschüchtern, wie ich manchmal leider bin; ich hätte noch mehr Wirbel nie durchgestanden. Bei der Preisverleihung habe ich tatsächlich dagesessen und mir inwendig die Daumen gedrückt für den zweiten Platz – na, ganz hinten wollte ich natürlich auch nicht landen … ;-)
Das Veröffentlichungsangebot an sich war dann nicht so arg überraschend, anders hätte es mir auch nicht recht eingeleuchtet. Schließlich ist das ja die Hauptaufgabe eines Verlags, Bücher zu veröffentlichen. Und da das Vorsortieren, wenn ich es richtig verstanden habe, im Verlag selbst stattgefunden hatte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass dort Bücher ausgewählt würden, für die der Verlag auf dem Markt keine Chancen sieht. Trotzdem, wirklich geglaubt habe ich es erst, als ich dann irgendwann den Vertrag zugeschickt bekam, mit den nötigen Heyne-Unterschriften schon drauf – ein ganz unbeschreibliches Gefühl.

Literatopia: Wilhelmina ist ein zumindest aus heutiger Sicht ein ungewöhnlicher, ja vielleicht auch unschöner Name für ein Mädchen. Wie kam es zu dieser Namenswahl für Deine Protagonistin? Und war der Name damals so üblich wie heute beispielsweise Sarah oder Julia?

Lilach Mer: Es ist wirklich ein eher grässlicher Name, nicht? Das arme Mädchen hat mir leid getan, zum Glück gibt es ja die Abkürzung, die ich persönlich sehr hübsch finde. Aber es musste natürlich ein zeitgemäßer Name sein, und, nun ja, der deutsche Kaiser hieß eben Wilhelm und nicht Julius. Es war damals ganz typisch, Kinder nach den Herrschern zu benennen (ich glaube, meine eigene Großmutter hat auch noch einen Schwung davon abbekommen, sie hieß nämlich „Minna“). Außerdem ist „Wilhelmina“ so wunderbar steif, der Name passte einfach sehr gut in die Welt des Gutshauses.

Literatopia: Eine sprechende Katze, die Deiner Protagonistin Mina den Weg weist, die traumhafte, teilweise surreal angehauchte Atmosphäre – Assoziationen mit „Alice im Wunderland“ und Märchen bleiben nicht aus. Welche Werke haben Dich und Deinen Stil beeinflusst?

Lilach Mer: Ich habe generell ein Faible für Geschichten, in denen man nicht genau sagen kann, was wirklich ist, was Traum und was vielleicht noch etwas ganz anderes. Dort, wo die Grenzlinien zwischen Welten verlaufen, ist es am interessantesten – und dort sind natürlich auch immer Katzen zu finden. Weshalb sonst sitzen sie so gerne genau in der Mitte einer offenen Tür, halb in diesem Zimmer, halb im nächsten? Insofern war es nicht unbedingt „Alice im Wunderland“, was den sprechenden Kater inspiriert hat, obwohl ich die Geschichte gern mag.
Für den „Schwan“ waren in erster Linie die Grimm‘schen Märchen wichtig, auf denen er beruht und die mich seit der Kindheit begleiten. Es gibt die Geschichte von dem Mädchen, das seine Brüder sucht, ja in mehreren Varianten: die „sieben Raben“, deren Gerüst von der Reise zu Sonne, Mond, Sternen und Glasberg ich verwendet habe, aber auch die „sechs Schwäne“ (und weitere), aus denen sich der Titel und die etwas abweichende Verwendung der verwandelten Tiere ergeben haben. Ansonsten habe ich versucht, mich in der Schreibzeit von allen anderen „starken“ Geschichten möglichst fernzuhalten, ich bin nämlich furchtbar leicht zu beeinflussen. Das war nicht so schwer, wie es vielleicht klingt, weil ich nach der „Seitenzahl-Sollerfüllung“ spätabends meistens sowieso zu müde war, um noch viel zu lesen. Ich denke aber, dass neben den Märchen noch die Astrid-Lindgren-Geschichten, die ich sehr liebe, mit hineingespielt haben – sie habe ich als Kind und als Jugendliche hundertmal gelesen, vor allem die traurigen wie „Mio, mein Mio“. Sie sind mir bewusst wieder eingefallen, als ich zu den „Unterirdischen“ kam, die aus den alten nordischen Sagen stammen und die bei Lindgren auch auftauchen, ich glaube, in den „Schafen von Kapella“.

Literatopia: Magie spielt eine zentrale Rolle in Deinem Werk, auch wenn sie zunächst leise und versteckt erscheint. Was macht für Dich Magie aus? Magst Du sie gerne so zart und der Natur innewohnend? Oder darf Sie auch offensichtlicher sein?

Lilach Mer: „Magie“ bedeutet für mich viele, miteinander verflochtene Dinge. Magie können die kleinen Seltsamkeiten im Alltag sein, die man kaum wahrnimmt und die einen trotzdem eigenartig berühren, oder auch das Träumen mit offenen Augen in einen Baumwipfel hinein. Magie kann das Gefühl sein, was beim wilden Tanzen zu wirklich guter Musik entsteht, oder beim ersten Blick in die schönsten Augen der Welt. Magie liegt in der Luft, wenn etwas anrührt und fesselt, wenn Farben bunter scheinen und geheimnisvoll zu strahlen beginnen; wenn sich krumme Laternenpfähle an einem nebligen Morgen in Zeichen verwandeln. Auf eine Weise ist es vielleicht das Spüren eines verborgenen Sinns hinter den Dingen, und man begegnet ihm nur, wenn man genau das tut – spüren, empfinden. Leidenschaft entwickeln, für was auch immer. Magie kann zart sein, nicht mehr als eine Andeutung, die sich leicht beiseite wischen lässt; oder so machtvoll, dass sie Welten in Stücke reißt. Es kommt, denke ich, darauf an, wie viel man von ihr zuzulassen bereit ist.

Literatopia: Warum eigentlich gerade Phantastik? Hast Du schon immer phantastische Geschichten geschrieben oder Dich auch in anderen Gefilden herumgetrieben? Wie viele unveröffentlichte Werke schlummern in Deiner Schublade?

Lilach Mer: Nun, ich habe Minas Geschichte für den Heyne-Wettbewerb um die „Magischen Bestseller“ geschrieben, und da Science Fiction nicht so sehr meins ist, war Fantasy die naheliegende Wahl. Das Genre liegt mir außerdem auch am Herzen, nirgendwo sonst hat man die Möglichkeit, so nah an den ganz alten Geschichten zu schreiben, die wir uns vor Urzeiten am Feuer erzählten. Gleichzeitig ist es nach allen Seiten hin offen, man kann es mit den unterschiedlichsten Themen verbinden. Seltsamerweise ist der „Schwan“ trotzdem meine erste phantastische Geschichte. Ich habe vorher entweder Modernes geschrieben oder, ganz entgegengesetzt, kleine historische Szenen; es gibt da bestimmte Zeiten, die mich schon seit Jahren faszinieren … Diese Dinge sind aber nie in Romane hineingewachsen, insofern sind da, fürchte ich, bei mir keine unveröffentlichten Bücher in der Schublade zu entdecken. Der „Schwan“ ist tatsächlich nicht nur mein erstes veröffentlichtes, sondern in jeder Hinsicht mein erstes Buch (na, abgesehen von der Doktorarbeit ;-)). Und so schwierig es vielleicht in mancher Hinsicht auch ist, sich im „Genre“ zu tummeln, ich bin sehr froh darüber, dass ich es getan habe, und werde der märchenhaften Phantastik auch nicht etwa gleich wieder den Rücken kehren.

Literatopia: Wie gefällt Dir das Cover von „Der siebte Schwan“? Was macht für Dich ein gutes Cover aus?

Lilach Mer: Ich finde das Cover bezaubernd und sehr passend. Das Mädchen sieht „meiner Mina“ sehr ähnlich, es hat auch diesen leicht eigensinnigen Zug im Gesicht; und die schwebende, leuchtende Feder ist wunderhübsch und vermittelt gut die Stimmung des Buchs. Generell denke ich, dass genau das ein gutes Cover ausmacht – dass eine Beziehung zum Buch besteht und man, wenn man das Cover ansieht, bereits ahnen kann, wie es sein wird, die Geschichte zu lesen.

Literatopia: In „Der siebte Schwan“ werden viele Szenen von Musik getragen. Was bedeutet Dir Musik? Und welche Stilrichtungen bevorzugst Du?

Lilach Mer: Musik ist für mich etwas ganz Essentielles. Ich habe Klavier und Querflöte gelernt, war jahrelang im Ballettunterricht, habe im Chor gesungen und in einem Orchester gespielt … Das soll allerdings nicht bedeuten, dass ich nur klassische Musik höre. Dazu bin ich, irgendwo unter den „Juristenschichten“, immer noch zu sehr Tanzmaus, um nicht bei einem kräftigen, guten Rhythmus sofort mein Herz flattern zu fühlen. Und wenn dann noch eine Melodie dazu kommt, die mich gefangen nimmt – dann bin ich eigentlich, solange die Musik andauert, für nichts anderes mehr zu gebrauchen. Welches Etikett drauf klebt, ist mir dann völlig gleichgültig.

Literatopia: Deinen Schreibstil könnte man beinahe als lyrisch bezeichnen. Magst Du Gedichte? Schreibst Du selbst welche?

Lilach Mer: Ich liebe einfach Sprache an sich. Sie ist für mich mehr als nur ein Gebrauchsgegenstand; Bücher, die sich nicht auch mit der Sprache selbst beschäftigen, auf welche Art auch immer, sind für mich im Grunde Drehbücher. Sprache hat so viel mit Musik zu tun, sie hat Rhythmus und Melodie, und beides ist mir sehr wichtig, wenn ich schreibe. Die Sätze formen sich eher danach, wie ich sie höre, als wie ich sie sehe. Das Ergebnis ist beim „Schwan“ sehr romantisch und tatsächlich wohl auch eher lyrisch geworden – ich fand das der Zeit und der Geschichte angemessen. Aber auch generell neige ich schon dazu, die einzelnen Sätze in einem Prosatext wie hunderttausend kleine Gedichte zu betrachten.
Was wirkliche Lyrik betrifft, ich habe eine große Schwäche für sehr alte Gedichte bzw. Lieder – Walther von der Vogelweide zum Beispiel oder die berühmten angelsächsischen Dichtungen, wie „The Wanderer“ oder, besonders bezaubernd und geheimnisvoll, „Wulf and Eadwacer“. Ich schätze aber auch deutsche Klassiker wie den „Feuerreiter“, grusele mich wie wild beim „Knaben im Moor“ und kann immer noch den ganzen „Türmer“ von Goethe auswendig (übrigens auch Macbeths Monolog nach Lady Macbeths Tod – noch ein herrliches Stück Lyrik). Die Moderne reicht bei mir ungefähr bis Lasker-Schüler, die natürlich sehr anrührend ist; danach finde ich relativ wenig, was mir wirklich etwas sagt. Ganz moderne Lyrik ist mir zu oft reine „Befindlichkeit“ und zu wenig Handwerk. Aber ich bin da ganz Leserin, habe also nicht die leiseste Fachkenntnis ;-)

Literatopia: Mit welchen Büchern machst Du es Dir abends gemütlich? Welche Genres haben den Weg in Dein Bücherregal gefunden?

Lilach Mer: Abends lese ich am liebsten Bücher, die ich schon kenne, alles andere führt nur dazu, dass ich das Licht gar nicht erst ausmache und dann wie gerädert zur Arbeit fahre ;-) Ich habe eine Sammlung „Vertrauter“ neben dem Bett, die wahrscheinlich relativ seltsam aussieht: der „Herr der Ringe“ (am besten auf Englisch) steht neben den schon völlig zerfledderten „Buddenbrooks“, Walther Kempowski neben Agatha Christie, und oben drauf liegen Neuankömmlinge, die ich meistens beim Essen lese. Aktuell ist das etwa „This is Where I Leave You“ von Jonathan Tropper; dazu kommen verschiedene Sachbücher.
Mit den Genres ist es bei Büchern für mich wie mit der Musik, es ist mir gleichgültig, was für ein Schild draufklebt. Ich glaube, ich habe alles im Schrank, Krimis, Fantasy, ernste Literatur, historische Romane, Tagebücher, blödeliges Zeug … Wenn es gut ist, d.h., wenn es mich fesselt und unterhält, dann lese ich es. Das einzige, was ich wirklich verabscheue, sind sadistisch genaue Beschreibungen von irgendwelchen Quälereien. Das macht es mit den modernen Krimis manchmal recht schwierig für mich, und auch bei den historischen und den Fantasy- Romanen haben sich die genüsslich geschilderten Vergewaltigungen und Folterungen inzwischen seuchenartig ausgebreitet. Solche Szenen sind meines Erachtens, wenn es nicht eine unbedingte geschichtliche Notwendigkeit für sie gibt, eine Beleidigung für jeden, der jemals selbst Opfer von Gewalt geworden ist.

Literatopia: Wir wissen „zufälligerweise“ (lacht), dass Du Sachbüchern ziemlich viel abgewonnen kannst. Was entgegnest Du jenen, sie Sachbücher grundsätzlich als langweilig und schwere Kost abtun?

Lilach Mer: (zwinkert) Für Sachbücher gilt, denke ich, was für alle Bücher gilt: Wenn es langweilig ist, ist es ein schlechtes Buch (oder das Thema liegt dem Leser nicht). Das ist also nichts Sachbuch-Spezifisches. Und wenn es so umständlich und trocken geschrieben ist, dass man kaum ein Wort versteht, dann scheint der Autor selbst etwas nicht verstanden zu haben, nämlich den Unterschied zwischen einem Fach- und einem Sachbuch. Die englischen Sachbücher haben den deutschen da zum Teil einiges voraus; es gibt zum Beispiel hervorragende historische Sachbücher, die so unterhaltsam und spannend geschrieben sind, dass man sie nicht aus der Hand legen kann. So etwas findet man bei uns noch zu selten. Für jeden, der sich mit Sachbüchern noch schwer tut, kann ich als Einstieg nur wärmstens Bill Brysons „Kurze Geschichte von fast allem“ empfehlen. Das Buch ist ein wahrer Augenöffner dafür, was Sachbücher alles sein können: spannend, verständlich, lehrreich – und unglaublich komisch.

Literatopia: Wie wird es mit Dir in schriftstellerischer Hinsicht weitergehen? Hast Du bereits einen neuen Roman in Arbeit, vielleicht schon fertig?

Lilach Mer: Meine Vorstellung ist, dass der „Schwan“ in absehbarer Zeit Gesellschaft bekommen, also erst einmal ein zweites Phantastik-Buch folgen soll – allerdings spielt es in einer komplett anderen Welt. Diese Geschichte ist seit einem Weilchen in Arbeit; vielleicht schafft sie es im nächsten Jahr schon in die Regale, das lässt sich im Moment noch schwer einschätzen. Daneben tummeln sich aber weitere schon relativ deutlich „sichtbare“ Kandidaten, teils Phantastik, teils historische Stoffe. Mal sehen, wohin die Reise weiter gehen wird!

Literatopia: Vielen Dank für das schöne Interview, Lilach!

Lilach Mer: Ich danke Euch, sehr spannende Fragen!


Autorenfoto: Copyright by Birgit Wilhelm

Rezension zu "Der siebte Schwan"

Interview auf Feenfeuer mit Lilach Mer (Februar 2011)


Dieses Interview wurde von Judith Gor für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.