Das Schweigen des Jan Karski (Yannick Haenel)

Verlag: Rowohlt Berlin, März 2011
Hardcover, 187 Seiten, € 18,95
ISBN: 978-349-803-0070

Genre: Belletristik / Zeitgeschichte


Klappentext

Jan Karski, Kurier des polnischen Widerstands, sollte der Welt berichten, was er über die Judenvernichtung wusste. Doch niemand mochte seine Botschaft hören. Der Mann, der „den Holocaust stoppen wollte“, versank nach dem Krieg lange in Schweigen. Yannik Haenel gibt Karski nun eine fiktive, eigene, berührende Stimme.


Rezension

Yannick Haenel lebt in Paris sowie Florenz und leitet die Zeitschrift Ligne de risque, die er mit anderen Autoren vor einigen Jahren gründete. Als Stipendiat in der Villa Medici verfasste er Das Schweigen des Jan Karski. Ein Roman, der bald darauf viele Wochen lang in Frankreich auf den Bestsellerlisten zu finden war. Dieser Autor, und dessen gewagte Konstruktion aus Wahrheit und Fiktion, widmet sich als einer von vielen einem Thema, das auch heute immer noch zu schockieren und zu berührend weiß. In drei Kapiteln erzählt er aus dem Leben des polnischen Widerstand-Kuriers Jan Karskis und über schreckliche Wahrheiten, die so mancher Mensch auch heute noch nicht hören will.

>> Es geschieht in Shoah von Claude Lanzmann. Gegen Ende des Films versucht ein Mann zu sprechen, aber er kann nicht. Der Mann ist um die sechzig und spricht englisch; er ist groß und mager und trägt einen eleganten graublauen Anzug. Das erste Wort, dass er sagt, ist: „Now“ (Jetzt). Er sagt: „Jetzt gehe ich fünfunddreißig Jahre zurück … .“ <<

Selten genug geht einem ein Buch so nahe. Ein Bericht über unvorstellbares Leid, über das man zumeist öfter gelesen oder gehört hat. Das einen zu lähmen versteht und dennoch zu jederzeit verlangt, sich bewusst gemacht zu werden. Und gerade letzteres vermag Yannick Haenel geradezu meisterhaft. Er entführt den Leser. Lässt ihn hilflos zusehen und das Leben des Jan Karski Revue passieren. Ein Mann, der Stärke bewies; den man nur bewundern kann und an dessen Stelle man vermutlich bereits nach wenigen Monaten des Schreckens gestorben wäre. Er steht im Fokus. Er und sein Vorwurf gegen den Westen. Gegen die Menschen, die sich zu Komplizen Hitlers machten. Ob freiwillig oder aus kalter Starrer heraus. Sich in trügerischer Sicherheit wiegend (und wenn auch nur für den Moment) haben sie die Polen und den Widerstand, vor allem aber die europäischen Juden, im Stich gelassen. Denn jeder Mensch, den Jan Karski in seiner Funktion als Kurier des Widerstandes eine ganz bestimmte Nachricht überbracht hatte, wusste schlussendlich Bescheid. Auch Präsident Roosevelt, der von Yannick Haenel als gähnender, gelangweilter Mann dargestellt wird, der sich Karski zwar anhörte, aber nicht hören wollte. Es nicht über sich brachte, die Verantwortung für sich zu sehen und Hilfe zu entsenden; auch nicht auf diese besondere, verlangte Art. Denn schon bald während Karskis Tätigkeiten für den Widerstand wurde dem Kurier von verzweifelten Juden eine Nachricht weitergegeben. Ein Flehen nach Hilfe. Und der Leser erzittert förmlich, bei Yannik Haenels Umschreibung des Interviews in Shoah. „Then they gave me massages.“ Botschaften sollte Jan Karski für die Juden überbringen; eine von vielen Wahrheiten erzählen: „Hitler muss daran gehindert werden, die Vernichtung fortzusetzen! Jeder Tag zählt! Die Alliierten können diesen Krieg nicht einzig unter militärischen Gesichtspunkten führen. Wenn sie diese Haltung einnehmen, werden sie den Krieg gewinnen. Aber was nützt uns der Sieg? Wir werden diesen Krieg nicht überleben!“ Mehrmals holt Jan Karski nach diesen und anderen Absätzen darauf hin mit heißer Stimme aus: „Begreifen Sie? Begreifen Sie?“ („Do you understand?“) Und ja, der Leser versteht. Vielleicht nicht ganz, vielleicht nicht genau so wie sich der polnische Kurier es erhofft hatte, damals, aber dennoch genug, um den Fortgang des Buches mit anderen, offeneren Augen zu sehen. Und das obwohl sich der geneigte Leser vielleicht bisher immer gedacht hatte, seine Augen nicht verschlossen zu haben.

Zu verdanken ist dieser Umstand zum einen natürlich der durch und durch authentischen Person Jan Karski, zum anderen jedoch auch sehr dem Autor Yannick Haenel, der sich dem Thema zwar nicht unvoreingenommen und parteilos widmet, dafür jedoch voller Leidenschaft und mit beeindruckender Sprachgewalt. In drei Kapiteln bringt er den polnischen Kurier, der seinen Namen immer wieder im Verlauf seines Lebens wechseln musste, näher an den Leser heran. Kapitel eins umschreibt das Interview in Shoah; trifft den Leser mitten ins Herz. Der nächste Abschnitt fasst darauf hin Jan Karskis Buch Story of a Secret State zusammen, das dieses Jahr unter dem Titel Mein Bericht an die Welt im Antje Kunstmann Verlag erschien. Kapitel drei hingegen ist eine reine Fiktion. Sie stützt sich auf Momente aus dem Leben, die nach Yannik Haenels Gutdünken ausgeschmückt worden sind. Er schreibt dem Kurier Gedanken zu, gibt dadurch auch viel von seinen eigenen Ansichten preis und gerade dieser letzte, frei erfundene Teil stößt so manchem Fachkundigen bitter auf; wird gemeinhin sogar als Skandal bezeichnet. Denn Yannick Haenel nimmt kein Blatt vor den Mund. Er beschuldigt durch Karskis Augen und Gedanken verschiedene Parteien und schlussendlich wird jeder Leser selbst für sich entscheiden müssen, welche Dinge er mit dem polnischen Kurier vielleicht doch nicht ganz so in Einklag bringen kann.

In Yannick Haenels Augen gab es schlussendlich für diesen Mann nur noch Verzweiflung. Schweigen folgte nach seinen vergeblichen Versuchen etwas an der Situation der Juden zu verändern. Rückzug; doch Jan Karski zog sich nie gänzlich zurück. Er unterrichtete und blieb fern der Öffentlichkeit, bis man ihn in Shoah wieder zu Wort kommen ließ. Am Ende dieses Romans angekommen, wird der Leser erschüttert, gepackt und wach gerüttelt sein. Wacher als es bei so manchem Buch dieser Art vielleicht möglich ist. Und für diesen Mut, so viele Dinge so unverblümt beim Namen zu nennen, verspürt man zumindest großen Dank.

Ich wusste damals noch nicht, dass das beste Mittel, jemanden zum Schweigen zu bringen, darin besteht, ihn reden zu lassen. Und genau das ist geschehen: Man hat mich reden lassen, jenem Tag wie an Dutzenden anderen, ich habe jahrelang geredet, ich habe ein Buch geschrieben, und man hat es mich schreiben lassen, und als ich es veröffentlicht habe, hat man dafür gesorgt, dass dieses Buh ein Erfolg wird, dass Hunderttausende Amerikaner und Amerikanerinnen es kaufen, und jedes Mal, wenn mich mein Verleger anrief und sagte: „Wie sind bei sechzigtausend! Wir sind bei hundertdreißigtausend! Wir haben die Schwelle von zweihunderttausend überschritten“, dachte ich: sechzigtausend Gähnen, hundertdreißigtausend Gähnen, zweihunderttausend Gähnen …

(Seite 126)


Fazit

Yannick Haenel hat mit Das Schweigen des Jan Karski einen erschütterten Bericht geschrieben und eine sehr wichtige Persönlichkeit portraitiert, die man nach diesem Buch wohl nie wieder vergessen kann. Ein dunkler Zug entführt den Leser durch die Abgründe der Geschichte, durch alle in dieser Zeit nennenswerten, und nimmt den Leser mit auf eine Reise, die man schlussendlich jedem empfehlen möchte, der sich für dieses Thema interessiert. – Ein großer Mann, eine schreckliche Geschichte, schockierende Wahrheiten und ein Stil, der tief ins Herz des Lesers dringt. Schlicht und einfach: Ein wichtiges, lesenswertes Buch.


Pro und Contra

+ authentisch & schockierend ehrlich
+ wunderbare Sprachgewalt
+ zum Nachdenken überaus anregend
+ persönlich und emotional
+ kaum überzogen präsentiert sowie schonungslos geschrieben

o manche Sichtweisen von Yannick Heanel bleiben bedingt zweifelhaft

Wertung:

Authentizität: 5 / 5
Inhalt und Tiefsinn: 5 / 5
Lesespaß: 5 / 5
Preis/Leistung: 4 / 5