Der Märchenerzähler (Antonia Michaelis)

Oetinger, 1. Auflage Februar 2011
HC mit SU, 448 Seiten
EUR 16,95 (D) | EUR 17,50 (A) | SFR 25,90
ISBN: 978-3-7891-4289-5

Genre: Jugendbelletristik mit Thriller- und Fantasy-Elementen


Klappentext:

Seine Lippen waren kalt wie Schnee, aber jenseits der Lippen lag die Wärme von samtenem Stoff, Stoff auf dem nächtlichen Deck eines Schiffes. Sie spürte seine Zunge und dachte an den Wolf. Und wenn es wahr ist, dachte sie, wenn das Märchen wahr ist? Ein Genickschuss und ein tödlicher Biss in den Nacken. Alles stimmt. Und wenn ich einen Mörder küsse?

Anna und Abel – eine Liebe, die über alle Zweifel siegt und in der das Unmögliche möglich ist.


Rezension:

Das Märchen, in dem Anna landete, war so hell und lichtdurchflutet wie der Moment, in dem er Micha in der Luft herumgeschleudert hatte. Doch sie hörte hinter den Worten eine uralte Dunkelheit lauern, die Dunkelheit aller Märchen, die Kehrseite.
Erst später, viel später, erst zu spät würde Anna begreifen, dass dieses Märchen tödlich war.
(Seite 45)


Anna lebt mit ihren Eltern, die sie beim Vornamen nennt, in einem Haus, das irgendwie blau ist. Sie ist behütet aufgewachsen, nahezu jeder Wunsch wurde ihr von den Lippen abgelesen. Für Anna ist die Welt angenehm problemlos, mit ihren siebzehn Jahren hat sie noch nichts Böses erlebt und nur selten etwas hinterfragt. Das ändert sich, als sie aus reinem Unverständnis von ihren Freunden wissen möchte, warum sie den Jungen mit der tief ins Gesicht gezogenen Wintermütze immer nur beim Nachnamen oder "Kurzwarenhändler" nennen. Mit dieser Frage und ihren weiteren Handlungen reißt sie eine bis dahin verschlossene Tür auf und bekommt Zutritt in eine Welt, die ihren Freunden und Mitschülern weiterhin verschlossen bleiben wird.
Denn Abel, so heißt der "Kurzwarenhändler" mit Vornamen, hütet so manches Geheimnis, lässt Anna jedoch - zunächst widerwillig, schließlich aber aus freien Stücken und mit offenen Armen - hinter die Kulissen und hinter die Fassade schauen. So lernt Anna nicht nur Abels kleine Schwester Micha kennen, sondern wird außerdem Teil eines ganz persönlichen Märchens, das Abel erfindet und erzählt. Als Anna bewusst wird, dass zwischen der Realität und dem Märchen enge Bande geknüpft sind, wird sie ein wenig ängstlich, doch das Märchen hat sie so in seinen Bann geschlagen, dass sie sich nicht dagegen wehren kann - sie muss einfach wissen, wie das Märchen ausgeht. Und ganz nebenbei entwickelt sich zwischen Anna und Abel eine (nicht immer) zarte Liebesgeschichte, die wie auch das Märchen selbst einige Folgen nach sich zieht.

Optisch sehr sanft gehalten kann die Geschichte um den fast achtzehnjährigen Abel, der seiner kleinen Schwester Micha ein fortlaufendes Märchen erzählt, schnell in die falschen Hände geraten. Denn so ruhig, wie das Cover vermitteln mag, ist und bleibt Der Märchenerzähler bei Weitem nicht. Mitunter sehr heftige Szenen erschrecken selbst erwachsene und teils hartgesottene Leser und sind für zartbesaitete Jugendliche in keiner Weise geeignet, könnten sich sogar geradezu verstörend auswirken. Hier sollten Eltern vielleicht einen Blick in das Buch oder wenigstens verschiedene Bewertungen werfen, bevor sie es an ihren jugendlichen Nachwuchs weiterreichen.
Für Leser, die jedoch auch in der Jugendliteratur mit etwas gröberem Stoff durchaus umgehen können, wird Annas und Abels Werdegang in einer Art berühren, wie es kaum ein anderes Jugendbuch bisher geschafft hat. Eine reine Liebesgeschichte darf hier jedoch nicht erwartet werden, denn Der Märchenerzähler ist eine fein abgestimmte Mischung aus Roman und Thriller, in der auch einige phantastische Elemente ihren Platz finden.

Die wundervolle Art, wie Abel eine unschöne Botschaft verpackt, um sie der kleinen Schwester verständlich und behutsam nahe zu bringen, und die spannenden Passagen außerhalb der Märchenstunden lassen den Leser fast atemlos von Seite zu Seite blättern, während jedoch regelmäßig auch vereinzelte Textstellen zum Verweilen und Wirkenlassen einladen. Antonia Michaelis hat einen besonderen Schreibstil, der zwar anfangs ein wenig gewöhnungsbedürftig ist, mit der Zeit aber völlig überzeugen kann. Zur Stimmung passend spielt sie nicht nur mit Worten, sondern auch mit Bildern, die dem Leser vor seinem inneren Auge die Möglichkeit geben, noch tiefer in die Geschichte des Märchenerzählerseinzudringen. Atmosphärische Dichte wechselt sich mit lockeren Dialogen ab und lässt so niemals Langeweile aufkommen, gegenteilig sind die ohnehin gefühlt viel zu knappen Seiten viel zu schnell ausgelesen.

Kurzweilig und in vielerlei Hinsicht packend-spannend gehört dieser Roman sehr wahrscheinlich zu den besten des Jahres. Und obwohl das Ende ein sehr klares und mitnehmendes ist, kann sich selbst der pessimistischste Leser wohl nicht gegen den leisen Hoffnungsschimmer wehren, dass es ganz vielleicht doch eine Weiterführung geben wird - in welche Richtung auch immer.


Fazit:

Ein wunderschönes Beispiel, wie behutsam auch die schlimmsten Nachrichten überbracht werden können und wie selbst aus dem größten Schrecken etwas Schönes entstehen kann. Mit Der Märchenerzähler zieht Antonia Michaelis nicht nur jugendliche Leser in ihren Bann, sondern eröffnet auch Erwachsenen eine neue Welt inklusive der Möglichkeit des Träumens. Trotz allen Zaubers ist jedoch wegen einiger heftiger Passagen gerade bei jüngeren Lesern durchaus Vorsicht geboten.


Wertung:

Handlung: 4/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4,5/5