Vergiss ihn nicht (Liane Moriarty)

Verlag Bastei Lübbe, Juni 2011
Originaltitel: What Alice forgot, übersetzt von Sylvia Strasser
Taschenbuch, 544 Seiten, € 8,99
ISBN 978- 3404165698

Genre: Belletristik


Klappentext

»1998?« Die Ärztin sah sie besorgt an. »Sind Sie da ganz sicher?« »Ja, natürlich«, antwortete Alice. »Ich weiß das, weil mein Kind am 8. November 1998 zur Welt kommen soll.« »Die Sache ist nur die«, sagte die Ärztin langsam, »wir haben schon das Jahr 2008.« Durch einen Sturz hat Alice kurzzeitig das Bewusstsein verloren - und offenbar jegliche Erinnerung an die letzten zehn Jahre ihres Lebens. Ist sie etwa nicht 29, wahnsinnig glücklich mit ihrem Ehemann Nick und schwanger mit ihrem ersten Kind? Nein, sie ist natürlich schon 39, hat bereits drei Kinder und ihre Ehe - naja! Doch Alice ist entschlossen, die Zeit zurückzudrehen. Alice ist 39, hat bereits drei Kinder und ihre Ehe ist alles andere als glücklich. Ihr Problem: Sie erinnert sich an all dies nicht. Im Gegenteil! Sie und Nick sind doch so glücklich, denkt sie, ihre Liebe ist etwas ganz Besonderes. Was ist sie in den letzten zehn Jahren nur für eine Frau geworden? Sie mag ihr heutiges Ich nicht, das sie in den Erklärungen ihrer Familie wieder findet. Alice ist gegen alle Widerstände entschlossen, ihre Ehe zu retten - bis sie ihr Gedächtnis wiedererlangt


Rezension

Als Alice nach einem Sturz wieder zu sich kommt, ist sie äußerst verwirrt. Wieso trägt sie solche Sachen? Was macht sie überhaupt in einem Fitnessstudio? Wieso sieht ihre Freundin Jane so alt aus? Und warum erkennt sie überhaupt die Leute nicht, die sich alle so um sie bemühen und sogar mit Namen ansprechen? Aber nicht nur die Leute sind ihr unbekannt, auch die Mode und die Frisuren haben sich über Nacht massiv geändert. Ihr Baby! Alice durchfährt es eiskalt. Sie ist doch schwanger, hoffentlich ist ihrer Rosine nichts passiert. Warum schauen alle so bestürzt und faseln etwas vom falschen Zeitpunkt, es ist doch ein Wunschkind? So langsam schält sich die Erkenntnis heraus, dass ihre Verletzung schwerwiegender ist, als zuerst gedacht. Denn Alice hat 10 Jahre ihres Lebens einfach vergessen. Kann sich ein Mensch denn in 10 Jahren so dermassen ändern? Die Person, die Alice mittlerweile zu sein scheint, gefällt ihr nämlich überhaupt nicht. Sie kann doch unmöglich diese knochige, gehetzte und verbiesterte Frau sein, die schon im Juni die Weihnachtstage verplant. Vor zehn Jahren, schwanger und glücklich mit ihrer großen Liebe Nick hätte sie sich niemals vorstellen können, dass lediglich ein Jahrzehnt später ihr Leben in Trümmern liegt. Irgendetwas muss fatal schief gelaufen sein, denn sie und Nick liefern sich einen erbitterten Scheidungskampf.

Was haben wir in den letzten zehn Jahren unseres Lebens eigentlich gemacht? Haben wir uns in die Richtung entwickelt, die wir uns vorgestellt haben? Vielleicht ist es manchmal einfach an der Zeit, einen Spiegel vorgehalten zu bekommen um zu schauen, wer man ist und wer man eigentlich sein will. Alice ist entsetzt über die Frau, die sie geworden zu sein scheint. Niemand mag sie wirklich, sie hat nie Zeit und ihre ganzen alten Freunde sowie ihre Schwester haben kein vertrautes Verhältnis mehr zu ihr. Auch den ganzen kleinen Freuden des Lebens scheint sie abgeschworen zu haben, ihr einziges Ziel besteht aus dem Versuch, Nick zu demütigen. Die Situationen sind teilweise herrlich abstrus, wenn Alice von völlig Fremden umgeben ist und ihnen zu erklären versucht, dass sie sich nicht an ihre Worte von letzter Woche erinnern kann. Die Effizienz der neuen Alice ist ihr fremd, immer mehr schimmert die alte Alice durch, zur Freude von Nick und ihren Kindern. Der Umgang mit ihnen fällt Alice besonders schwer, denn an sie kann sie sich nun überhaupt nicht mehr erinnern, immerhin waren sie ja vor zehn Jahren noch nicht geboren. Schwer vorzustellen, dass man sich an seine eigenen Kinder nicht mehr erinnert.

Es ist aber nicht nur Alice Geschichte, auch ihre Schwester Elisabeth und ihre angenommene Großmutter Frannie bekommen viel Platz eingeräumt. Während Alice die Geschichte vorantreibt und durch ihren Gedächtnisverlust mehr in der Vergangenheit schwelgt, erzählt Elisabeth ihre Geschichte in einem Tagebuch, welches sie für ihren Psychiater Jeremy verfasst. Aus dem Blickwinkel einer verzweifelten Frau, die mit aller Macht versucht, ein Baby zu bekommen. Elisabeth schildert eindringlich die endlosen fruchtlosen Versuche, einen Embryo zu behalten. Ihre Gefühle, wenn wieder mal ein kleiner Astronaut sich verabschiedet hat, wallen durch das Buch hervor, niemand, der nicht in der selben Situation ist, kann auch nur annähernd verstehen, welche Gefühle durch ihren Körper jagen. Die Hoffnung, die sie sich nicht gestattet, das Fünkchen aber immer wieder durchflimmert. Die Ohnmacht und unendliche Traurigkeit, wenn Blutungen einsetzen. Die Verständnislosigkeit der anderen, die ihr raten, doch ein Kind zu adoptieren. Die Hilflosigkeit und Verzweiflung ihres Mannes Ben, der nichts tun kann, außer seinen Samen zu geben. Liane Moriarty findet Worte für all das, die es jedem gestatten, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen und zu verstehen, annähernd zu verstehen, wie und vor allem welche Gefühle die Kontrolle übernehmen.

Frannie hingegen schlägt sich mit einem ganz anderen Thema herum. Als Junggebliebene und auf der Höhe der Zeit hat sie einen eigenen Blog, in dem sie der ganzen Welt mitteilt, wie es um sie in ihrem Seniorenheim und in ihrer Familie bestellt ist. Ihre Einträge sind offen - vielleicht etwas zu offen, aber die Kommentare beschönigen auch nichts. In einem Ton, der derweil wohl überall im Internet herrscht, wird ihr beigepflichtet, sie getröstet, sie bestärkt, ihr Mut zugesprochen und auch offene Kritik geübt. Die Einträge sind meistens heiter und eine willkommene Abwechslung zur Geschichte, beinhalten sie auch kurz und knapp eine Reflektion des Geschehenen. Großmutter Frannie hat allerdings auch ihre eigenen Probleme bei der Planung eines Ausfluges, über die sie sich in ihrem Blog beklagt. Die Ratschläge daraufhin sind zwar unkonventionell, aber äußerst erfolgreich.

Durch die verschiedenen Perspektiven, des ungewöhnlichen Plots und der fesselnden Thematik hat Liane Moriarty ein äußerst abwechslungsreiches, unterhaltendes und sehr nachdenkliches Buch geschrieben. Der Stil ist packend, flüssig und ironisch, ihre Charaktere realistisch, ihre Gefühle nachvollziehbar. Man begleitet sie ein Stück ihres Weges, merkt, wie sie sich verändern und an ihren Aufgaben reifen und wird durch aufschlussreiche Sprünge in die Vergangenheit durch verschiedene Stilmittel ausreichend mit Hintergrundinformationen informiert. Genau durch diese Abwechslungen ist das Buch sehr kurzweilig, die Seiten fliegen nur so dahin und man möchte einfach nur wissen, ob und wann Alice ihr Gedächtnis wiedererlangt. Vor allem aber auch, wie alle anderen Charaktere die Ereignisse verarbeiten und sich ihr weiteres Leben gestaltet. Hat der Gedächtnisverlust wirklich etwas bewirkt?


Fazit

Wissen Sie noch, wie ihr Stand heute vor zehn Jahren war? Hat sich ihr Leben so entwickelt, wie es geplant und gewünscht war? Ist ein Innehalten und Reflektieren eigentlich nicht eine gute Idee? Liane Moriarty hat ein wundervolles Buch über ein ungewöhnliches Ereignis geschrieben, das viele aktuelle und brisante Themen zur Sprache bringt oder einfach nur fesselnden Lesespaß verspricht.


Pro und Contra

+ witzige Situationen
+ ungewöhnliche Perspektive
+ liebenswerte Charaktere
+ außergewöhnlicher Plot
+ unkonventionelle Problemlösungen
+ das Leben, wie das Leben nun mal ist

Wertung:  

Handlung: 4,5/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4,5/5