Der Meermacher (Christoph Braendle)




Verlag Bibliothek der Provinz, Weitra, 2008
232 Seiten, gebunden, Preis: 22,00 EUR (D)
ISBN 978-3-85252-946-2

(Genreübergreifender Roman mit Phantastik-Elementen)


Nie Meer?

In diesem Moment fielen die ersten Tropfen vom Himmel. Das grosse Regnen begann. Schon prasselte Wasser gegen die Fensterscheibe, durch welche Gustav in den Garten starrte. Das Licht wurde stumpf und trüb und passte sich Gustavs Stimmung an. Sie war finster, seit Gerlinde die lang geplante Reise in die Südsee hatte stornieren müssen, weil es ihr nicht gelingen wollte, ihre Flugangst zu überwinden. Adieu, feiner Sand und hohe Palmen. Kein Tauchkurs, keine Korallenriffs, keine Fische. Stattdessen würden sie zu Hause Ferien machen. [...] Es würgte ihn der Gedanke, was er nun alles verpassen würde. Nie die Farbe des Meeres sehen? Nie seinen Geruch riechen? Nie sein salziges Wasser mit den Lippen kosten?

- aus: „Nie Meer“, dem ersten Teil des Romans

Gustav reagiert verbittert, als dieser lang gehegte Traum, den er sich schillernd ausgemalt hat, zerplatzt und nur das Grau des Regens bleibt, während seine Frau Gerlinde nur zu erleichtert darüber ist, kein Flugzeug besteigen zu müssen. Als Gustav allerdings aus Verärgerung ihre heiß geliebten Rosenstöcke beseitigen will, um wenigstens im winzigen Gärtchen Platz für ein paar Palmen zu machen, geht zum ersten Mal ein Riss durch die Ehe, der beiden Partnern ein Stück ihres Halts im Gewohnten raubt und sie hinaustreibt, auf unvorhergesehene Weise neue Wege aufzeigt. Während Gerlinde den Lockruf der Welt vernimmt, klammert sich Gustav weiter an seinen Traum vom Meer, der für seltsame Begegnungen sorgt und plötzlich gigantische Ausmaße annimmt ..

Die Philosophie der Meerbaukästen

Was mag der kleinsten Einheit des Meeres entsprechen, was macht es möglich, einen Teil davon ins eigene Haus zu holen? Zumindest ein Aquarium sollte doch machbar sein, findet Gustav, der sich immer noch nach den Weiten des Ozeans sehnt. Doch die eigentümlichen Gestalten, die ihm dabei unterkommen, haben um diese schlichten gläsernen Kästen ganze Gedankenkonstrukte gesponnen. So wird er einmal belehrt: „Diese Aquarien sind keinem wirklichem Meer nachgestellt, [...] sie ahmen die Natur nicht nach, sie kopieren sie nicht, vielmehr gehen sie über sie hinaus, sie transzendieren das, was wir Wirklichkeit nennen, in einen Idealzustand, der jetzt nicht ist, aber vielleicht einmal werden wird.“
Es bedeute eine ungeheure Aufgabe, einen Teil des unermesslichen Ozeans in so einem Miniaturbecken einzufangen, widerzuspiegeln, je kleiner, desto schwieriger. Und zunächst scheitert Gustav auch kläglich an dem Versuch, die Bilder in seinem Kopf in die Wirklichkeit zu übertragen, bis ihm auf einmal die Zügel aus der Hand genommen werden und er sich mit einer ganz anderen Philosophie konfrontiert sieht – der der Größe, der Machbarkeit, der Grenzenlosigkeit. Die Möglichkeiten, die sich ihm nun auftun, übersteigen seine wildesten Phantasien, und schnell wird klar, dass „Der Meermacher“ nicht nur eine Parabel über Träume ist sondern auch darüber, was geschieht, wenn sie außer Kontrolle geraten. Aquarianer und Geschäftsleute als Gegenstücke, Minimalismus versus Maximalismus, Reduzierung versus opulente Optimierung.

Flutwellendynamik

Es fasziniert, wie Christoph Braendle mit einer kleinen Zelle der menschlichen Gesellschaft seinen Roman beginnt, mit einem Ehepaar, einem Häuschen, einem Gärtchen, drei Rosenstöcken – und gleich der Dynamik einer Flutwelle stauen sich die Ereignisse, erst noch langsam, dann immer schneller, sprengen den Rahmen der kleinen Siedlung, erreichen schlussendlich gar globale, ja, man möchte sagen: universale Ausmaße, eskalieren, wie sich die Welle selbst überschlägt, um schließlich wieder zu verebben – doch nichts, was sie zurücklassen, ist, wie es vorher war.
Ganz eigen sind die Charaktere des Buches; Gustav mit seiner Bodenständigkeit bildet den Kontrast zu so mancher Figur, ob es um eigenbrötlerische Aquarianer oder überschwängliche Geschäftsführer konturloser Unternehmen geht, und beinah scheint es, als ob jeder um ihn Gedankentürme babelscher Ausmaße errichtet hätte, die nicht selten zu Sprachverwirrungen führen, die den Protagonisten ein wenig ratlos, ein wenig verwirrt danebenstehen lassen oder ihn mitreißen, ob er nun will oder nicht. Nur zu gern lässt man sich von manchen der Reden faszinieren, von Ideen gefangen nehmen, die in ihrer Eigenwilligkeit einen ganz besonderen Reiz haben – so wie so manche Figur, ob nun der jähzornige Wirt mit den nahezu Zen-buddhistischen Tendenzen oder die schillernde Kunstnixe, die nicht vor politischen und gesellschaftlichen Überlegungen zurückschreckt und damit nahbarer wird als mit ihrem verführerischen Flossenschlag.

Fazit

Es fällt schwer, knapp zu bleiben in Bezug auf diesen Roman, sich nicht in Worten und Details zu verlieren, mit denen er liebevoll und sorgfältig ausgestaltet ist, ohne dabei Ironie und stillen Humor zu kurz kommen zu lassen. Seien es die Charaktere, seien es die Gegenstände oder die Schauplätze, die zeitweise selbst einen Charakter zu entwickeln scheinen, sei es die dicht gewebte, dynamische Handlung: „Der Meermacher“ vermag als Gesamtwerk zu überzeugen, in dem sich alles ineinander fügt und dabei für ein wunderbares Leseerlebnis sorgt.


Pro und Contra:

+ Handlung von sich steigernder Dynamik
+ Eigenwillige Charaktere mit ironischen Elementen
+ Dicht gewoben und atmosphärisch
+ Detailliert ausgestattet und -gestaltet
+ Durchsetzt mit philosophischen und gesellschaftskritischen Überlegungen der Figuren, ohne dass sie in reinen Selbstzweck ausarten

o Ende mit phantastischen Elementen

Bewertung:

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5