Das Kind, das vom Ende der Welt träumte (Antonio Scurati)

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Rowohlt Taschenbuch Verlag, Februar 2012
Taschenbuch, Seiten: 346
9,95 Euro [D], 10,30 Euro [A]
ISBN: 978-3-499-25797-1


Genre: Belletristik


Klappentext


Ein Junge mit Albträumen, eine Stadt in Angst

Ein Kind träumt vom Ende der Welt. Es wandelt im Schlaf, spielt mit Feuer – und niemand hat eine Erklärung dafür. Dreißig Jahre später ist das Kind zum Mann geworden und erlebt einen neuen Albtraum: In seiner Heimatstadt bricht Panik aus, als mehrere Erzieher, Lehrer und Priester des Kindesmissbrauchs verdächtigt werden. Die heile Welt vieler Familien zerbricht, denn immer mehr Eltern entdecken an ihren Kindern verstörende Symptome. Doch dann bringt die Aussage einer Mutter im Gerichtssaal die Wendung.

»Der Keim des Verdachts breitet sich aus und befällt Männer, Frauen, Familien und Schulen. Darin liegt die Aktualität und Faszination des Buches.« Umberto Eco


Über den Autor

Antonio Scurati, 1969 in Neapel geboren, lehr an der IULM-Universität Mailand und koordiniert dort das Forschungszentrum für Kriegs-und Gewaltsprachen.


Rezension

Am 25. Juni 2007 kommen zwei neue Erzieherinnen in das Bergstädtchen Bergamo. Nur wenig später kommt es zu ersten Gerüchten, als die junge Alleinerziehende Marisa Comi schwere Vorwürfe gegen die Schule ihrer fünfjährigen Tochter vorbringt und ein verstörendes Video zeigt, in dem diese einen sexuellen Akt nachstellt und ihre Erzieher sowie einen berühmten ortsansässigen Priester beschuldigt. Aus Unglauben, wird schnell Misstrauen, dann verzweifelte Wut, denn immer mehr Eltern entdecken an ihren Sprösslingen verstörende Symptome. Niemand ist mehr sicher vor den Vorwürfen. Eine ganze Stadt ist gespalten, und die Presse ist mittendrin.

Laut Autor handelt es sich hierbei um einen authentischen Fall wie er sich zu Beginn des dritten Jahrtausends in der italienischen Provinzhauptstadt Bergamo abspielte, ein Fall von Pädophilie, dem Verdacht, der sich wie eine Seuche über eine gesamte Region ausbreitete und alles unter seinem Pesthauch erstickte. Erzählt wird die tragische Geschichte aus Sicht eines zerrissenen Professors. Dessen seltsame Kindheit ist nicht nur in verstörenden Auszügen am Anfang jedes Kapitels dargestellt, sondern auch titelgebend für das Buch.

Nach dem Vorwort und einem interessanten Auftakt in die Geschichte verliert sich Scurati zunehmend in dem obskuren Gedanken seines Protagonisten. Diese sind geprägt von Selbstmitleid, Depressionen und Vorstellungen, die einen als Leser mehr als einmal den Kopf schütteln lassen. Hinzu kommt, dass man selbst mit einem abgeschlossenen Studium ab und an zum Wörterbuch greifen muss, um Scurati zu verstehen. Was manche als literarische Brillanz bezeichnen mögen, gestaltete das Lesen für den normalen Leser unglaublich anstrengend und verlangsamt die Handlung zudem so sehr, dass sich die Spannung in einer endlosen Weite der zähen Ausschweifungen verliert. Aus der Tragik der Geschichte wird so eine Ein-Mann-Epiphany, die Darstellung einer traurigen, weil langweiligen Midlife-Crisis, der Verfall eines intelligenten Geistes, der nicht nur an der maroden Gesellschaft, sondern vor allem an sich selbst und seinen fehlenden Platz darin scheitert.


»In der Verfassung, in der ich gerade bin, kommt es mir so vor, als würde das Nachtbaden die tiefere Bedeutung von Wellnessprogrammen zutage fördern: den Bau einer Vorhölle zwischen Leben und Tod, eine amphibische Welt zwischen dem Flattern des Organismus und dem Hineingleiten in die Ruhe des Anorganischen, ein Grenzgebiet zwischen dem Leid des Lebenden und dem endgültigen Stillstand des Toten.

Jetzt begreife ich: Die Leidenschaft für Wellnesszentren ist kein Anzeichen für eine überschäumende, unerschöpfliche Vitalität, sie ist keine x-te sexuelle Erregung, sondern ihr Gegenteil. Sie ist der Ausbruch eines niemals gestillten Todestriebes (…) die Sehnsucht nach einem pränatalen Zustand.« S.145f

 

Lässt man den Professor und dessen Kindheit, die in sich zwar stimmig gehalten und gut inszeniert ist, aber völlig bedeutungslos für die eigentliche Geschichte, so breitet sich auf den gut 350 Seiten eine Geschichte aus, die in ihren einzelnen Facetten und durch ihre realitätsnähe durchaus erschreckend ist. Das Spiegelbild der Welt ist hässlich. Es regt zum Nachdenken an, zum Hinterfragen der Medien, aber auch der Motive mancher Menschen.


Fazit

Das Kind, das vom Ende der Welt träumte ist inhaltlich wie sprachlich ein schwieriges Buch. Es bedarf ein Durchhaltevermögen, das der tragischen Geschichte um Kindesmissbrauch und Hysterie vielleicht würdig wäre, durch Scuratis gewählten Protagonisten und dessen Sprach-Exzesse dem Durchschnittsleser aber zu viel abverlangt. Für kritische Leser auf sehr hohem Niveau aber durchaus empfehlenswert durch die Veranschaulichung aktueller Themen.


Pro & Kontra

+ aktuelle Themen werden kritisch beleuchtet

- weinerlicher Protagonist, der sich zu oft in seine abstrakten Gedanken verliert
- zähe Handlung
- sehr anspruchsvolle Sprache

Wertung: alt

Handlung: 3/5
Charaktere: 1/5
Lesespaß: 2/5
Preis/Leistung: 2/5