Christian Damerow (29.08.2012)

Interview mit Christian Damerow

Literatopia: Hallo Christian! Anfang des Jahres ist Dein Roman „All eye cats“ erschienen – erzähl uns doch mit eigenen Worten, worum es geht? Wie bist Du zu dem Titel „All eye cats“ gekommen?

Christian Damerow: Die Handlung ist im Grunde simpel: Eine junge, alkoholabhängige Frau bemüht sich ihr eigenes Leben zu zerstören und nimmt dabei bewußt, als auch unbewußt positiven, belebenden Einfluss auf das verfahrene Leben der anderen Charaktere. Sie hilft ihnen aus ihrer Einsamkeit oder gibt ihnen einen Anstoß zur Veränderung. Das Hauptthema ist Drogensucht und Abhängigkeit. Abhängigkeit jedoch nicht nur im Sinne von Suchtmitteln, sondern im Sinne einer Unfähigkeit sich aus der eigenen Lage zu befreien. Der Titel "All eye cats" entstand aus der Idee die Protagonisten als Streuner und Rastlose zu gestalten. Ich hörte einen Song von Lou Reed, aus dem Album "Berlin", in welchem von "alley cats" (Streunerkatzen) die Rede ist und schon war ein Titel geboren.

Literatopia: Alle Kapitel des Romans tragen die Überschrift „Nacht“ – was bedeutet die Nacht in „All eye cats“? Und was bedeutet die Nacht insbesondere für Sibylle, Deine Protagonistin?

Christian Damerow: Die Nacht wurde für mich zum zentralen Motiv der Geschichten. Ich dachte dabei an die "Nachtstücke" von E.T.A. Hoffmann und die "dunkle Nacht der Seele" aus der Mystik. Momente größter Einsamkeit und Verlassenheit assozierte ich mit der Nacht. Zugleich war sie für mich ein Symbol für die Grenze von Wachen und Schlafen. In gewisser Weise sind alle Figuren im Begriff aus ihrer aussichtslosen Lage zu erwachen. Die wichtigsten Ereignisse in "All eye cats" ereignen sich nachts, dort werden sich die Charaktere ihrer eigenen Lage bewußt. Die Nacht birgt auch immer die Hoffnung auf einen Morgen, eine Hoffnung , die zugleich die Einsamkeit noch vergrößern kann.

Literatopia: Sibylle ist quasi das verbindende Element zwischen den Einzelgeschichten. Wie stark ist ihr Einfluss auf das Leben der anderen Charaktere? Welche Art von Träumen bringen sie um den Schlaf? Und gibt es für Sibylle vielleicht eine reale Vorlage?

Christian Damerow: Sibylle ist die zentrale Figur im Roman. Sie wird heimgesucht von ihrer Vergangenheit und Träumen, die ihr die Zukunft zeigen. Sie ist mit der Fähigkeit geboren Ereignisse vorauszuahnen, indem sie sie träumt, doch die Fähigkeit ist für sie mehr Fluch als Segen. Es ist diese Gabe, die es ihr ermöglicht die "verlorenen Seelen" in "All eye cats" zurück auf den Weg zu bringen, sie aufzuwecken und ihnen zu helfen. Im Grunde stellt Sibylle eine Verschmelzung aus zwei realen Personen dar, deren Identität ich besser geheimhalte. (schmunzel)

Literatopia: In „All eye cats“ wechselt die Perspektive kapitelweise, es erscheinen immer neue Personen, die sich teilweise kennen. Was verbindet sie außer Sibylle? Weshalb hast Du Dich entschieden, so viele verschiedene Charaktere auftreten zu lassen?

Christian Damerow: "All eye cats" entstand auf chaotischem Wege. Was zunächst ein Sammelsurium aus Kurzgeschichten war, welche nur das Motiv "Großstadt" gemeinsam hatten, wurde nach einem Jahr Bearbeitung ein Roman in Form von Kurzgeschichten. Es war die Absage eines Verlags, die mir den Anstoß gab, aus den verschiedenen Kurzgeschichten einen Roman zu gestalten. Mir wurde nahegelegt den roten Faden, der einige Geschichten verband, deutlicher herauszuarbeiten. Ein Beweis dafür wie hilfreich detaillierte Absagen von Verlagen sein können. Ich suchte also nach verbindenden Elementen und kam zum Motiv der "Nacht". Alle Figuren sind Nachtgestalten, Streuner. Sie befinden sich in einer Abhängigkeit von Drogen oder schlicht dem Alltag und seinen Gewohnheiten und wollen auf die ein oder andere Weise aufwachen. Zudem entschied ich mich bewußt gegen einen linearen Roman, da es für mich nicht getreu der Idee einer Großstadterzählung war. Die Großtstadt konnte für mich nur aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden, um ihre Abhängigkeiten und Bezogenheiten zu beschreiben.

Literatopia: Die Menschen in „All eye cats“ sind allesamt auf ihre Weise seltsam und trotzdem meist ganz normal. Wie Sibylle, die tagsüber ihren Job meistert und jedem ein offenes Ohr bietet und nachts ihre selbstzerstörerischen Züge auslebt. Oder der Familienvater, der in seiner Garage eine Stadt baut und sie schließlich anzündet. Wo ziehst Du die Grenzen zwischen „normal“ und „verrückt“? Sind die Charaktere in „All eye cats“ verrückt – im Sinne von der Realität entrückt?

Christian Damerow: Es war der Kontrast von Tag und Nacht, der mich interessierte. Die Figuren sind im gewissen Sinn jenseits von gut und böse. Sie befinden sich im Grenzland und können nicht sagen, ob die Nacht gerade begonnen hat oder endet. Jeder trägt einen dunklen Teil in sich und die Figuren werden sich dessen bewußt. Sie tauchen in ihn ein, um dem Alltag stärker gegenüber treten zu können.

Literatopia: Menschen zünden ihre Häuser an, betrinken sich bis zur Besinnungslosigkeit und konsumieren bedenkliche Mengen synthetischer Drogen – welches Publikum hast Du Dir für „All eye cats“ vorgestellt?

Christian Damerow: Mir war bewußt, dass ich mit dieser Geschichte wahrscheinlich gar kein Publikum haben würde (schmunzel). Tatsächlich hoffte ich eine Geschichte zu schreiben, die in ihrer Stimme jeden erreichen kann, der je nachts wach lag und ein großes Fragezeichen an der Zimmerdecke sah. Menschen, die, um es banal zu sagen, von der Frage nach dem Sinn des Lebens gequält werden.

Literatopia: Im Schlusskapitel wird die Geschichte des blauen Hunds erwähnt – es gibt auch eine Kurzgeschichte von Dir mit dem Titel „Der blaue Hund“. Handelt es sich um die gleiche Geschichte? Worum geht es darin?

Christian Damerow: Es handelt sich um dieselbe Kurzgeschichte. Ich reichte sie in eine Kurzgeschichtenausschreibung vom TrokkenPresse Verlag ein, welcher sich umfassend in der Suchthilfe und für Abhängige engagiert und war sehr froh, dass sie akzeptiert wurde. Auf einer Lesung des Verlags hatte ich sogar die Gelegenheit die Beteiligten persönlich zu treffen.

Literatopia: Ist diese Erfahrung auch maßgeblich in „All eye cats“ eingeflossen? War es schwierig für Dich, die Rauschzustände der Charaktere glaubwürdig darzustellen? Hast Du dafür recherchiert?

Christian Damerow: Der Roman war an sich bereits fertiggestellt, als die Kurzgeschichte herauskam. Ich entnahm sie für den Wettbewerb und reichte sie dann ein. Im Grunde half mir der Kontakt zum TrokkenPresse Verlag eines der Hauptmotive des Roman deutlicher in den Blick zu bekommen. Recherchiert habe ich hinsichtlich der Verbreitung synthetischer Drogen, doch nicht umfassend. Die Beschreibung der Rauschzustände sollte möglichst allgemein gehalten bleiben, da ich das Buch nicht speziell auf Drogen reduzieren wollte.

Literatopia: In der Anthologie „Metamorphosen“ kann man Deine Kurzgeschichte „Der gute Gott“ lesen – inwiefern ist dieser Gott „gut“ und bleibt er es (bei einem Titel wir Metamorphosen)? Oder wird er es erst?

Christian Damerow: "Der gute Gott" ist ein zweischneidiges Schwert. Es handelt sich um eine Geschichte, die in einer Anthologie in Gedenken an H.P. Lovecraft im Torsten Low Verlag erschien. Ich versuchte darin das Thema des Glaubens in den Lovercraft Kosmos einzuführen und stellte mir einen Priester vor, der seinen Glauben verliert, ihn jedoch angesichts von Göttern wie im Cthulu Mythos, wieder findet.

Literatopia: Wie bist Du das erste Mal mit dem Cthulhu-Mythos in Kontakt gekommen? Und wie schätzt Du seine Bedeutung für viele Autoren des 20. Jahrhunderts bis heute ein? Kennst Du eine besonders gelungene, moderne Umsetzung des Mythos?

Christian Damerow: Das erste Mal kam ich durch einen Artikel im Magazin "Space View" mit Lovecraft in Kontakt. Es handelte sich um eine sehr anschauliche Biographie und Bibliographie, die mich sofort faszinierte. Als ich die Enden des Mythos von der "Illuminatus" Trilogie, bis hin zu Stephen King entdecken konnte, befasste ich mich intensiver damit. Eine besonders gelungene Umsetzung sind in meinen Augen Neil Gaimans Kurzgeschichte "I, Cthulhu" und der amerikanische Horror-Sci-fi Film "The Cabin in the Woods".

Literatopia: Wie ist die Resonanz auf „All eye cats“? Schaust Du regelmäßig nach Rezensionen im Netz? Und wie weit lässt Du solche Fremdmeinungen an Dich heran?

Christian Damerow: Die Resonanz ist bisher überraschend fair. Obwohl "All eye cats" für viele verwirrend sein mag, erhielt ich noch kein Kopfschütteln oder einen vollständigen Verriss. Ein "Ich verstehe es nicht, aber ich habe es bis zum Ende gelesen" war für mich bereits ein Kompliment, da ich mich bemühte, die verflochtenen Handlungsstränge in angenehmer Sprache zu erzählen. Wie ein Gericht, von dem man nicht sagen kann aus welchen Zutaten es gemacht ist, das man aber gerne isst. Kritiken und Rezensionen sind für mich sogar sehr wichtig, da selbst kleinste Kommentare den Denkprozess neu anregen. Ich lese viele Rezensionen zu Autoren und Büchern, die mich interessieren, und viele helfen mir einen neuen Blickwinkel auf Geschichten zu bekommen. Gute Rezensionen wecken Neugierde und regen zu Diskussionen an.

Literatopia: Seit wann schreibst Du eigentlich? Gab es ein Schlüsselerlebnis oder hat sich diese Leidenschaft eher allmählich entwickelt?

Christian Damerow: Mein Traum war es eigentlich Musik zu machen, doch da ich unmusikalisch bin, entschied ich mich für das Wort. Soweit ich weiß, begann ich mit dem Schreiben, als ich 14 oder 15 war, ich war von den frühen Romanen Wolfgang Hohlbeins begeistert und liebte Stephen King. Ich hatte eine klassische, schwarze "Erika" Schreibmaschine von meiner Mutter, auf welcher ich unzählige Romananfänge einhämmerte, ohne je etwas zu beenden. Der Entschluss Schriftsteller zu werden kam Schritt für Schritt, wurde aber bald zu einem Lebensziel.

Ich begann Kurzgeschichten zu schreiben und auf einen Ratschlag Neil Gaimans hin, der jungen Autoren empfiehlt, etwas wirklich zu beenden, wenn man weiter kommen will, begann ich auch Geschichten zu beenden und bei Wettbewerben einzureichen. Ich ging Schritt für Schritt vor. 1. Geschichten beenden. 2. Geschichten veröffentlichen. 3. Romane beenden. 4. Romane an Verlage senden etc.

Literatopia: Mit wie vielen Absagen musstest Du schon fertig werden? Wie oft hast Du vielleicht nicht einmal eine Antwort bekommen? Und was motiviert Dich letztlich, dranzubleiben?

Christian Damerow: Ich habe schon einige Absage erhalten, aber ich zähle sie nicht oder ärgere mich darüber. Tatsächlich habe ich bisher immer eine Antwort erhalten, zumeist jedoch Standardabsagen. Meine Motivation liegt darin die Storys zu veröffentlichen. Sie sind wie eigene Kinder, von denen man möchte, dass sie auf die ein oder andere Art die Welt verändern.

Literatopia: Schreibst Du bevorzugt zu bestimmten Tageszeiten? Vielleicht nur an Deinem Schreibtisch, in Ruhe? Oder könntest Du auch in einem überfüllten Café drauf los schreiben?

Christian Damerow: Ich habe weder eine feste Zeit noch einen festen Ort zum Schreiben. Zuhause erledige ich meist nur die Korrekturarbeiten oder das Abtippen von Handgeschriebenem. Das eigentliche Schreiben spielt sich oft in Cafés, in Bahnen oder auf offener Straße ab. Ich liebe es in der Öffentlichkeit zu schreiben, dem Lärm und den Stimmen des Alltags ausgesetzt. Entweder an hellichtem Tag oder in tiefster Nacht. Viele meiner Geschichten entstanden weit nach Mitternacht zu meiner Lieblingsmusik. Dennoch läßt sich, abgesehen von einem bestimmten Café, welches bevorzugt Donuts verkauft, kein Lieblingsort festmachen. Schreiben muss und kann ich überall.

Literatopia: Was denkst Du – Talent oder Handwerk? Was macht einen guten Schriftsteller aus? Und was hältst Du eigentlich von „creative writing“-Kursen etc.?

Christian Damerow: Schwer zu sagen. Vieles ist Handwerk, denke ich. Ich entschied mich bewusst keinen bestimmten Stil zu entwickeln. Ich begann mit einem sehr ausschweifenden, hypotaktischem Stil (Schachtelsätze á la Thomas Mann), las dann Wolfgang Borchert und fasste den Entschluss bewusst einen neuen Stil zu versuchen, kurze, abstrakte Sätze, Geschichtenskizzen etc.

Dann bemühte ich mich in Geschichten auf das Tempo und die Dialoge zu achten, etwas, das vor allem für Kurzgeschichtenwettbewerbe hilfreich war.
Wichtiger als Talent oder Handwerk ist Intuition, denke ich. Das eigene Gefühl und zugleich ein offenes Ohr für Ratschläge. Man muß auf die Bücher achten, von denen man angezogen wird und von den eigenen Idolen lernen, ohne sie wie Götter zu verehren. Zum Beispiel war Wolfgang Hohlbein ein großes Idol in meiner Kindheit, jetzt habe ich wiederum die richtige Distanz, um zwischen seinen frühen, guten Romanen und seinem Spätwerk zu unterscheiden.

Man muss die eigenen Geschichten respektieren, auch die schlechten und an keiner festhalten, als handelte es sich um den nächsten Harry Potter. Ich rechne jeden Moment damit, dass mein PC abstürzt oder mein Haus abbrennt und alles, was ich je schrieb verloren geht und sage mir, dass ich dennoch immer etwas Neues schreiben kann.
"Creative Writing" - Kurse habe ich selbst besucht, allerdings entschied ich mich persönlich dagegen. Der "Beobachter" - Effekt war mir zu schlaggebend. Die Kritik war selten objektiv, die Geschichten meist auf einen Publikumseffekt ausgelegt. Dennoch glaube ich, dass es in Deutschland bei weitem zu wenig davon gibt und allein deswegen lediglich eine "Underground" Schriftsteller Kultur existiert.

Literatopia: Was liest Du gerne? Haben alle Genres einen Platz in Deinem Bücherregal? Und gibt es vielleicht ein Buch, das Du unseren Lesern ans Herz legen möchtest?

Christian Damerow: Ich lese durch alle Genres. Vom Realistischen bis zum Phantastischen, am Liebsten jedoch eine gute Mischung. Wenn ich drei Autoren nennen müsste, wären es Haruki Murakami, Fjodor Dostojevski und Arthur Rimbaud. Ein Buch, welches ich jedem empfehlen könnte, ist weniger ein Buch, als ein Gedicht. Rilkes "Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke".

Literatopia: Was wird uns in Zukunft von Dir erwarten? Arbeitest Du bereits an einem neuen Roman?

Christian Damerow: Ja, mein nächster Roman ist bereits beendet und an verschiedene Verlage verschickt. Ich hoffe, er findet seinen Platz. Ich bemühte mich darin ein Thema zu behandeln, welches mich selbst fasziniert und leichter als Genre zu definieren ist: Engel.

Literatopia: Herzlichen Dank für das Interview, Christian!

 


Autorenfotos: Copyrigt by Christian Damerow

Rezension zu "All Eye Cats"

Rezension zu "Des Schrecklichen Anfang"


Dieses Interview wurde von Judith Gor für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.