Die Lügen des Locke Lamora (Scott Lynch)

Heyne (Mai 2007)
Taschenbuch, 848 Seiten
ISBN: 978-3453530911
€ 14,00 [D]

Genre: Fantasy


Klappentext

Ein Fantasy-Abenteuer im Breitwandformat

Dies ist die Geschichte von Locke Lamora - Meisterdieb, Lügner und wahrer Gentleman -, der mit seiner Bande die engen Gassen und verschlungenen Kanäle des uralten Herzogtums Camorr durchstreift und die Reichen und Betuchten um ihre Schätze erleichtert. Bis ein skrupelloser Mörder die Herrschaft über Camorr an sich reißen will - und für Locke Lamora das Abenteuer seines Lebens beginnt...


Rezension

Manche Menschen klauen, weil sie Hunger haben, andere, weil sie gezwungen werden, und der kleine Locke Lamora, weil er es im Blut hat. Gerade erst ist der Waisenjunge im Reich des Lehrherren der Diebe angekommen, schon hat er den Geheimen Frieden gebrochen, der zwischen dem Abschaum und dem Adel Camorrs herrscht. Eine Abmachung, die Ganoven trotz ihrer Taten unbehelligt lässt, solange die Reichen und Blaublütigen nicht zu den Opfern gehören. Locke muss weg – und zwar schleunigst. Zu seinem Glück bleibt sein Leben verschont, stattdessen kommt er in die Ausbildung zu den Gentlemen-Ganoven. Dort kann er seine einzigartigen Fähigkeiten auch nach Herzenslust ausleben, bis eine Gestalt in Camorr auftaucht, die sich selbst Der Graue König nennt und einen Bandenchef nach dem anderen ermordet. Locke hat keine Angst um sein Leben, dafür ist er viel zu nichtig, allerdings hat der Graue König ganz andere Pläne mit ihm …

Bereits beim Lesen des Prologs mit dem grandiosen Titel „Der Junge, der zu viel stahl“ wird schnell klar, dass dieser Roman nicht wie die anderen sein wird. Der Anfang erinnert noch an Charles Dickens' „Oliver Twist“, als der dürre Waisenjunge mit seiner Schüssel sich etwas zu essen holt. Befürchtungen, es könnte sich um eine Adaption handeln, lösen sich aber sehr schnell in Luft auf. Denn Scott Lynchs Debüt ist bis zum Bersten gefüllt mit innovativen Ideen und interessanten Locations. Vielleser werden natürlich bekannte Elemente finden, aber vermutlich keiner wird behaupten können, sie jemals in dieser Kombination vorgefunden zu haben. Hier trifft Fantasy und Humor auf Thriller und Action. Die beschriebene Welt strotzt vor Details, die es dem Leser erlauben, tief in eine neuartige Welt einzutauchen, die Realität und Fiktion verschmelzen lässt. Man könnte meinen, man befindet sich im alten Venedig, wenn man all die Namen liest und erst einmal Gondeln durch die Kanäle treiben, die die Stadt durchziehen wie Adern, und doch ist die Welt völlig fremd und einzigartig. Mittelerde war einmal, willkommen in Camorr …

In dieser Stadt lebt also Locke Lamora, der gerade dabei ist, den größten Coup zu drehen, den die Stadt jemals gesehen hat, auch wenn sie niemals davon erfahren soll. Dass er dabei den Geheimen Frieden mit Füßen tritt, dient großer Erheiterung. Nichts wird an dem gaunerischen Handeln dem Zufall überlassen und dem Autor gelingt es zu Beginn grandios, den Leser an der Nase herumzuführen. Immer wenn man glaubt, der Plan sei durchkreuzt, merkt man, dass alles geplant war. Während sich die Gentlemen-Ganoven (im original etwas rauer Gentleman Bastards) in der Gegenwart ihre Taschen mit Geld füllen und sich nach und nach Komplikationen einschleichen, wird immer wieder eine Geschichte aus ihrer Vergangenheit in Form eines Zwischenspiels erzählt. Anfangs ist es vielleicht noch eigenartig, aus der Handlung gezerrt zu werden, während es doch so spannend ist – und das ist es so gut wie immer –, im Laufe des Buches freut man sich darauf. Irgendwie gelingt es Lynch mit den Rückblenden, Informationen zu vermitteln, ohne das Gefühl zu hinterlassen, das sei alles nur zweckmäßig konstruiert. Vielmehr gibt es der Story und vor allem den Charakteren eine ungemeine Tiefe. So stellt sich heraus, dass Locke nicht einfach nur ein genialer Tüftler ist, der sich gut darauf versteht, Reiche an der Nase herumzuführen, sondern, dass er erst katastrophal auf die Nase fallen musste, um zu lernen, wie er seine Fähigkeiten richtig einzusetzen hat. Jedes geschriebene Wort macht den Hauptcharakter zu einer liebenswürdigen und komplexen Figur, die ihre Macken hat. Weil das alleine aber nicht reicht für ein gutes Buch, erhalten alle Figur die nötige Vielschichtigkeit, die sie benötigen. Egal ob Lockes Freunde, sein Lehrer, seine Feinde oder einfach nur eine Nebenfigur, man wird sich letztlich an jede einzelne erinnern. Auch lange nach dem Beenden des Romans.

Übereinstimmungen mit Cornelia Funkes „Herr der Diebe“, könnten suggerieren, es handle sich hier um ein Jugendbuch, dem ist aber nicht so. Camorr ist ein dreckiges und gefährliches Pflaster und Gewalt herrscht überall. In der ersten Hälfte wird bei Gewalttaten nicht sonderlich ins Detail gegangen, aber spätestens mit dem Auftauchen des Grauen Königs, wird einiges an Blut vergossen. Die Brutalität nimmt gegen Ende sogar eine zentrale Rolle ein und wird nicht jedem zusagen. Wer sich daran und an der sehr derben Sprache nicht stört, wird das 850-seitige Werk aber lieben und sich sofort an den zweiten Band „Sturm über roten Wassern“ stürzen, nur um dem dritten Band „Die Republik der Diebe“ entgegen zu fiebern (Erscheinungsdatum voraussichtlich Februar 2013). Bis dahin wird womöglich der vierte von sieben (!) Bänden angekündigt werden oder es bereits Informationen über den geplanten Film geben.


Fazit

Keine Zeit verschwenden! Legt euer aktuelles Buch weg und besorgt euch dieses.


Pro und Kontra

+ Camorr ist eine einmalige Stadt, dank der Beschreibungen
+ spannende und perfekt durchdachte Story
+ jede Figur ist vielschichtig und hat Wiedererkennungswert
+ gewöhnungsbedürftiger aber gekonnter Erzählstil
+ Liebe zum Detail
+ gleich sechs Bände sollen noch kommen

Beurteilung:

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5


Rezension zu Sturm über roten Wassern (2)