Zwischengeist (Oswald Henke)

Culex Verlag (September 2012)
Hardcover, durchgehend farbig
130 Seiten, 18,90 EUR
ISBN: 978-3-942003-05-6

Genre: Lyrik


Klappentext

Gib mir den Abschied

Zieh den Mund als Dolch
das Wort als Klinge
über meine Lippen

Anschließend vernähen –
nicht nur die Schnitte
vernähe die Lippen
mit grobem schwarzen Garn

still gelitten!

Gib mir den Abschied
Doch küss mich nicht
Kann ewig nur noch Tränen atmen
Klar perlt so der Schmerz davon
Nimmt Abschied


Rezension

"Wenn ich aufhöre / aufhöre nachzudenken / so füttert mein Verstand / sich selbst" (aus "Seelenfütterung", Kapitel 1)

Bereits das Gedicht auf der Rückseite des schönen Hardcovers vermittelt eines der zentralen Themen in „Zwischengeist“: schmerzhafte Liebe. Hier in dunkle Metaphern verpackt, zwischen den Buchdeckeln auch mal sehr direkt, vorwurfsvoll – sich selbst und anderen gegenüber. Oswald Henke skizziert die Liebe als vergänglich, als enttäuschend und als wertlos, obgleich seine Lyrik sagt, Liebe sollte nicht wertlos sein. Doch vor allem spricht Kritik aus diesem Gedichtband: Kritik an der Gesellschaft und Kritik am Einzelnen, vor allem an sich selbst. Viele der Werke sind wie eine Aufforderung, endlich zu leben; nicht nur zu konsumieren und sein Leben fremdbestimmen zu lassen, sondern wirklich zu leben.

"Träumer leben einsam / Träumer werden zu Sündern" (aus "Spüren", Kapitel 2)

„Zwischengeist“ wurde in sechs beziehungsweise sieben Kapitel unterteilt, wobei am Ende der „Prolog als Nachwort für den Sündenfall“ dient. Im ersten Kapitel „Seelenfütterungen“ widmet sich Oswald Henke der Vergänglichkeit, der inneren Leere, dem äußeren falschen Schein, der Gesellschaft und der Frage nach dem eigenen Selbst. „Vorsünde und Sündenfall“ beginnt mit einem Epilog. Oswald Henke beschreibt in diesem Kapitel Einsamkeit und Sehnsucht, den Schmerz, der tagtäglich geschluckt wird und die Sünden unserer Zeit. „Agonie“ ist wie man anhand des Titels vermuten kann eines der düstersten Kapitel in „Zwischengeist“. Hier schwingt stark die Sehnsucht nach dem Leben mit, das nicht gelebt wird und nach der Liebe, die verloren ist. Von allen Werken finden sich hier die poetischsten.

"Wo ist der Scherbenspiegel / Ich will mich sehen / Als Menschenpuzzle ..." (aus "Von dem was war", Kapitel 3)

„Ethische Grenzgänger“ schlägt wiederum kritische Worte an, die Gedichte wenden sich erneut dem Äußeren zu, dem Wahnsinn unserer Gesellschaft. In „Seelischer Autokannibalismus“ dreht sich alles ums eigene Ich, wie in „Agonie“ sind die Worte poetisch und der Titel beschreibt genau das, wovon diese Gedichte handeln. Das sechste Kapitel nennt sich passenderweise „Abgeschlossen“, die Seiten werden schwarz und der Inhalt ebenso. Das Gedicht „Und wo es schreit …“ endet mit den Worten: „Ungeschützt verbrennt die Zeit im Licht / Übrig bleibt ein komplettes, makelloses Nichts“. Doch abgeschlossen scheint nichts zu sein, man spürt durchweg, dass sicherlich noch nicht alles gesagt ist.

"Freigeist manipuliert durch Eckendenken / Die Ethik abgelitten" (aus "Oft so satt", Kapitel 4)

Oswald Henke denkt nach, hinterfragt, übt Kritik und ebenso Verständnis. Seine Lyrik passt in unsere Zeit und hüllt sich in den morbiden Charme der schwarzen Szene, der er ein Reqiuem namens „Manisch-aggressiv“ gewidmet hat. Denn selbst die schwarze Szene, die einmal außerhalb der Gesellschaft stand und dort stehen wollte, scheint sich dem kommerziellen Wahnsinn hingegeben zu haben. Die schlichte Botschaft: schwarz ist nicht unbedingt schwarz. Und so richtet sich „Zwischengeist“ nicht ans feierwütige Volk, sondern an all jene, die ebenso ihren Gedanken nachhängen und noch ein wenig Rebellentum in sich tragen. Oswald Henke spricht mit seiner Lyrik aus, was viele Menschen bewegt, nicht nur jene, die sich zu der schwarzen Szene zählen.

"Lasst mich ... / denn ich bin übrig / Mein Kind / wurde nie geboren" (aus "Ich bin übrig", Kapitel 5)

Die meisten Werke in „Zwischengeist“ erscheinen optisch zerrissen, viele Zeilen bestehen aus einzelnen Worten, die das ganze Gewicht der Aussage tragen müssen – und es können. Auch wenn hier alles freirhythmisch und ohne Punkt und Komma geschrieben ist, lesen sich die meisten Gedichte sehr gut. Beinahe, als würden sie einer inneren Melodie folgen. Dazu liebt Oswald Henke Wortneuschöpfungen, die sich nahtlos in seine Gedichte einfügen. Die meisten sind so treffend, dass man nicht lange über die Bedeutung nachdenken muss – dennoch gibt es im Anhang einige Erklärungen so zu solchen Neulogismen, inklusive Links zu Hörbeispielen auf www.oswald-henke.de.

"Wer erzählt mir ein anderes Märchen / ... Von Schmetterlingen, die im Winter sanft verrecken" (aus "Verwirrt", Kapitel 6)

„Zwischengeist“ ist auch ein optischer Leckerbissen. Jede Seite wurde farbig gestaltet; mal schlicht und weiß mit roten und schwarzen Flecken, mal mit Motiven am Rand, stimmungsvollen Hintergründen oder auch komplett schwarzen Seiten. Hinzu kommen Fotos von Oswald Henke, die ebenso wie viele seiner Worte ein morbides Flair besitzen. Wer das Buch in den Händen hält, erkennt schnell, dass man damit nicht verdienen kann. Doch darum geht auch nicht.

"Nur allein - wenn man Wahrnehmung mit Wahrheit tauscht" (aus "Nur Allein", Kapitel 7 / Prolog)


Fazit

„Zwischengeist“ verpackt Oswald Henkes aufrichtige und düstere Lyrik in ein aufwändig gestaltetes Hardcover. Die Gedichte folgen einer inneren, verstörenden Melodie und lassen den Leser nachdenklich und zerrüttet, aber ebenso emotional und hoffnungsvoll zurück. Auch wenn sich Oswald Henke meist den negativen Seiten des Lebens und der Gesellschaft zuwendet, schreit es doch von jeder Seite: existiere nicht nur, sondern lebe!


Pro & Contra

+ aufwändige Gestaltung
+ morbider, düsterer Charme
+ facettenreich
+ aufrichtige, verstörende Worte

Wertung:

Texte: 4/5
Aufmachung: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


Interview mit Oswald Henke (September 2012)