Am Abgrund der Wirklichkeit (Arne Kilian, Regina Pönnighaus, Benno Sollm)

TextLustVerlag (August 2012)
Cover- und Innengrafik: Crossvalley Smith
Coverlayout: Atelier Bonzai
60 Seiten, Paperback, 4,95 EUR
ISBN 978-3-943295-24-5

Genre: Mystery


Klappentext

Kaffeepausengeschichten, Band 6 (Mystery)

Wo hört die Wirklichkeit auf, und wo beginnt das Reich der Fantasie? Die Grenze ist fließend, und wer sie überschreitet, kehrt nicht immer wohlbehalten zurück, sofern er es überhaupt tut. Lassen Sie sich von den drei Geschichten des vorliegenden Buches an den Rand dessen führen, was Sie als die reale Welt kennen, und vielleicht sogar ein kleines Stück weit darüber hinaus …

Die Autoren und ihre Geschichten:
Arne Kilian — Nebelwarnung
Regina Pönnighaus — Jucundas Mär
Benno Sollm — Findatur – er werde gespalten

Jede Geschichte mit Tipps für einen besonderen Lesegenuss.


Rezension

Benno Sollm — Findatur – er werde gespalten
Er ist ein rationaler Mensch, glaubt nicht an das Übernatürliche. Niemals. Für alles gibt es eine Erklärung, selbst wenn sie sich noch so abstrus anhört. Doch als Plötzlich ‚Warum‘ neben seinen eingeritzten Buchstaben auf der Parkbank auftauchen, sowie ein Schatten in seiner Wohnung herumirrt, pendelt er zwischen Wahnsinn und Wirklichkeit.
Ist es wirklich sie, die ihn aus dem Jenseits erreichen oder wird er nur langsam verrückt?

Der namenlose Protagonist ist ein rationaler Mensch und völlig normal. Er hat mit dem Verlust seiner Frau zu kämpfen und versucht irgendwie darüber hinweg zu kommen, bevor er immer wieder heimgesucht wird. Es ist gruselig, bedrückend und rührend zugleich. Die Gefühle sind so plastisch, dass man beim Lesen mit dem namenlosen Helden (der auch das Opfer sein könnte) bis zur letzten Sekunde mitfühlt.

Benno Sollm entführt den Leser in „Findatur – er werde gespalten“ in keine andere Welt, sondern verbleibt in unserer Welt und gibt dem Leser doch immer wieder Hinweise darauf, dass dort mehr sein könnte – jenseits des Todes. Zeitgleich zerstört er diese Hoffnung immer wieder mit der menschlichen Vernunft, nur um sie wieder neu zusammenzusetzen – wie ein groteskes Mosaik. Dabei lässt diese Hoffnung eine schreckliche Bitterkeit zurück. Die Kurzgeschichte kann man mit „The Sixth Sens“, „The Others“ oder „Gothica“ zu vergleichen –denn sie lässt den Leser gleichermaßen an seinem Verstand zweifeln. Diese Kurzgeschichte „Findatur – er werde gespalten“ ist eine kleine Perle, die mit wenig Worten und Metaphern, dafür mit umso mehr Gefühl, auskommt und den Leser zwischen Vernunft und Wahnsinn pendeln lässt.

Regina Pönnighaus — Jucundas Mär
Johann, Sohn des Töpfers, verirrt sich eines Abends im Moor und wird von einem wunderschönen Mädchen mit feuerrotem Haar gerettet. Sie führt ihn nicht nur aus dem Moor, sondern raubt auch Johanns Herz. Als die Frau des Korbmachers ein Kind wie ein Gnom gebar, steht für die Dörfer fest, dass nur die rothaarige Hexe Jucunda aus dem Moor Schuld tragen kann. Johann ist der traurige Held dieser Geschichte, der sich Hals über Kopf in ein Mädchen verliebt, das der Hexenverfolgung ausgesetzt ist.

Mit starken, schnörkellosen Worten beschreibt Regina Pönnighaus diese Mär, die sich so zugetragen haben könnte. Die Charaktere des Johann und der Jucunda bleiben allerdings sehr oberflächlich beschrieben. Der Leser kann sich nicht richtig in Johann oder Jucunda hineinversetzen, sodass der Schock-Moment am Ende der Kurzgeschichte weder nachhaltig, noch besonders beeindruckend ist. Regina Pönnighaus entwickelt mit „Jucundas Mär“ eine Kurzgeschichte, die während der Hexenverfolgung spielt, keinen Sog entwickelt und nur schwach im Gedächtnis zurück bleibt.

Arne Kilian — Nebelwarnung
Thomás lebt mit Kathrin und dem Schäferhund Caruso zusammen am Ufer der Ruhr, wo zwei Jahre zuvor Kathrins Verlobter Sven – zusammen mit ihrem Hochzeitsplänen – in der Ruhr ertranken. Dieser Jahrestag jährt sich wieder. Da verschwindet Caruso und ein merkwürdig dicker Nebel hüllt das gesamte Ufer der Ruhr ein.
Der gutmütige Thomás glaubt nicht an Geister, Gespenster und Übernatürlichem – auch wenn Halloween auf seiner Schwelle steht – der Tag, an dem sich Diesseits und Jenseits am nächsten sind.

„Nebelwarnung“ von Arne Kilian ist wie eine wahrgewordene Legende – ein deutsches Sleepy Hollow -, in der Realität und Mystik ineinander zerfließen. Besonders an Halloween – das auch noch in manchen deutschen Gemeinden als Totenfest/Samhain gefeiert wird. Wie eine Kerze ins Fenster stellen, damit die verwirrten Seelen ihren Weg finden. Die Auflösung der Geschichte ist – mit diesem Hintergrund betrachtet – umso gruseliger. „Nebelwarnung“ ist stilistisch stark geschrieben mit einem Wendepunkt, der dem Leser Gänsehaut über den Körper jagt. Eine Empfehlung für die Nächte rund um das (heidnische) Totenfest.


Fazit

„Am Abgrund der Wirklichkeit“ ist eine kleine, feine Mischung aus drei grundverschiedenen Kurzgeschichten mit starken Schreibstilen. Besonders zu empfehlen ist die melancholische Geschichte „Findatur – er werde gespalten“ und die gruselige „Nebelwarnung“ (besonders am bevorstehenden Halloween). Mit diesen Geschichten wird Samhain ein wahres Fest!


Pro & Kontra

+ Spiel mit alten Legenden
+ melancholische Poesie und die Aussage zwischen den Zeilen
+ Gänsehaut-Ideen
+ glaubwürdige Charaktere

- eine Geschichte bleibt nicht im Gedächtnis/keine Nachhaltigkeit

Bewertung:

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4,5/5
Sprache: 4/5
Preis/Leistung: 5/5


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