Die Unschuldigen (Jürgen Seidel)

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cbj (April 2012)
Taschenbuch
448 Seiten, 16,95 Euro
ISBN: 978-3570401378

Genre: Belletristik / Jugendbuch ab 12 Jahren


 Klappentext

Aachen, kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges: Eine Partisanengruppe soll den von den Alliierten eingesetzten Oberbürgermeister Franz Corneli ermorden. Zu dem SS-Mordkommando gehört auch die 19-jährige Heidrun. Als sie Cornelis Haus auskundschaftet, bekommt sie Gewissensbisse – erst recht, als sie den anziehenden Manfred kennenlernt. Ohne zu ahnen, dass er Cornelis Sohn ist, beschließt sie, sich von dem Mordkommando loszusagen. Doch die Partisanen spüren Heidrun auf ...


Rezension

Jürgen Seidel absolvierte eine Ausbildung zum Fernsehmechaniker, lebte in Australien sowie Südostasien und entdeckte dort seine Leidenschaft zum geschriebenen Wort. Nach seiner Rückkehr beschloss er Germanistik und Anglistik zu studieren. Seither arbeitet er unter anderem als freierschaffender Autor, gewann namhafte Preise und präsentiert nun, nach Blumen für den Führer, mit „Die Unschuldigen“ einen weiteren Roman aus der Zeit des zweiten Weltkrieges.

>> Neue Schüsse klatschten. Drei. Jetzt sah sie Mündungsfeuer. Erich schoss! Dann gellte ein langer Schrei und Stille folgte. Nach einer Ewigkeit hörte sie Erichs fast erwachsende Stimme. „Dem hab ich es gezeigt“ Habt ihr gehört? Der ist erledigt!“ „Warst du das etwa?“, fragte Wenzel leise aus einer anderen Richtung. Erst Schweigen. Heidrun wagte kaum, den Blick zu heben. Die Angst war wie ein Stein, der mitten in ihr lag und sie zu Boden zog. „Ich hab ihn erwischt!“, rief Erich, als wären sie auf einem Schürzenfest. „Ich hab uns rausgehauen!“ <<

Vergleicht man Jürgen Seidels Bücher untereinander, so sind innerhalb dieser detailreich geschilderten, sich teils auf Fakten stützenden Geschichten, acht Jahre vergangen. Im Sommer 1936 schwärmte die junge Leni vom Weltfrieden und wurde auserwählt, ihrem Idol, Hitler, Blumen zu überreichen („Blumen für den Führer“). 1944 jedoch, ist der Krieg beinahe vorbei – Alliierte erobern Deutschland Stück für Stück. Um die Verbildlichung einer solch landesweiten Krise ins rechte Licht zu Rücken, wurde vom Autor Aachen zum Schauplatz dieses über vierhundert Seiten starken Romans auserkoren: die „American Friends“ arbeiten eng zusammen mit Oberbürgermeister Franz Corneli – beide Parteien bemühen sich um eine friedfertige Kontrolle, während in weiten Teilen Deutschlands das Chaos regiert. Jürgen Seidel beschreibt die Stimmung Aachens perfekt. Er greift die Nöte und Ängste dieser Zeit, wie schon in „Blumen für den Früher“, sehr gut auf. Aber auch ihre Hoffnungen. Manfred, der Sohn des Oberbürgermeisters, arbeitet indes daran, auf keinen Fall in seinem Heimatland bleiben zu müssen. Er erledigt Aufträge für die Amerikaner, lernt Englisch und bemüht sich nach Herzenskraft, sich nicht von hübschen Gesichtern ablenken zu lassen. Die junge Partisanen Heidrun würde ihn, zu diesen Tage, (noch) nicht verstehen. Denn sie brennt darauf, im Namen Hitlers, der SS und ihrer Heimat, die Waffen zu strecken. Verschiedener könnten beide kaum sein und doch sind es oft Unterschiedlichkeiten, die zwei Menschen dazu bringen, sich ineinander zu verlieben.

Sie dachte an die Wut, als sie bereit war, Erich glattweg zu erschießen. Aber das war ein anderes Gefühl. Jetzt hielt sie die Waffe hoch, zielte ohne Ziel. War bereit, abzurücken und zu töten, sie war entschlossen. Erich hatte das Maul vor Staunen offen stehen. Heidrun sah sein Halbprofil. Sie bewegten sich nicht mehr, hörten auf zu atmen. Die Geräusche kamen näher. Ein Lichtkegel tastete durchs Holz, nur Schritte weit entfernt. Heidrun zählte ...

Zugegeben, der Gedanken an ein Liebespaar dieser Konstellation ist abwegig. Denn Heidrun allein wirkt von Beginn an, als wäre ihr kaltes, berechnendes Denken Hindernis genug für Manfreds zärtliche Avancen. Doch der Schein trügt, ebenso wie die Härte im Herzen, die nach und nach – gemessen am immer klarer werdenden Blick für die Welt – verstummt. Die Neunzehnjährige merkt schon bald, dass die (gleichaltrigen) „Kinder“, die den Oberbürgermeister für die SS töten möchten, gar nicht verstehen, was sie zu tun gedenken. Sie lachen, scherzen und spielen die Überlegenen. Fassaden im Krieg, die langsam zerbröckeln, wenn Ernst gemacht wird. Heidrun fühlt sich abgestoßen. Die Tatsache, dass sie eine der wenigen Frauen unter vielen Männern ist, erleichtert ihr nichts. Durch glückliche Umstände lernt sie neue Freunde kennen. Menschen, die sie belügen muss – letztendlich auch Manfred, der ihr vom ersten Moment an sympathisch ist. In Monaten voller Misstrauen und Gewalt, ist er der Anstoß für eine fundamentale Veränderung in ihrem Denken.

Jener Prozess steht in „Die Unschuldigen“ beinahe zu jederzeit im Vordergrund. Nicht der Krieg, nicht das Reich, ja noch nicht einmal die Liebe selbst – schlicht das Leben, wie es sich Jürgen Seidel situationsgerecht vorstellen kann. Und das er sich viele Gedanken gemacht hat, liegt auf der Hand. Er erzählt seine Geschichte abwechselnd aus Sicht der beiden Protagonisten, beweist ein sensibles Händchen für deren Entwicklung, sowie für Härte, wenn sie sein muss. Gewalt wird ungeschönt dargestellt – jugendliche Leser werden desillusioniert, sofern sie dachten, es gäbe irgendetwas heldenhaftes oder erstrebenswertes im Kampf zu sehen. Dieser Eindruck wird durch erzählerische Dichte gefestigt und kommt gänzlich ohne „mahnenden Finger“ aus. Dabei entstehende Nachteile: die eigentliche Handlung gerät völlig in den Hintergrund. Der Roman gestaltet sich als „nicht einfach“ zu lesen, strengt an und letztendlich bleibt man sehr nachdenklich zurück. Romantik? Fehl am Platz. Am Ende ist der Leser dennoch zufrieden, mit seiner für dieses Buch, aufgewendeten Zeit. Ob jedoch junge Lesergruppen wirklich die richtige Zielgruppe sind? Ja, wenn sie sich Gedanken machen „wollen“. Denn dafür ist „Die Unschuldigen“ perfekt geeignet und in dieser Funktion wertvoller, als man sich beim Lesern des Klappentextes vorstellen kann.

"Wir brauchen den radikalen Schnitt, der alles Vergangene hinter uns lässt. (...) Unsere Vergangenheit ist wie ein entzündeter Blinddarm. Wir müssen ihn herausschneiden, sonst greift die Infektion auf den ganzen Körper über. Diese Operation können nur wir vornehmen, die Jugend."

(Seite 306)


Fazit

Jürgen Seidel konfrontiert den Leser gekonnt aus jugendlicher Tätersicht mit geschichtlichen Ereignissen und kombiniert sein kreatives Handwerk mit gut recherchierten Fakten. Detailverliebt geschrieben, bemüht der Autor sich darum geneigten Lesern zu zeigen, wie sehr sich ein Mensch von Umständen formen lassen kann. Gefühle wie Liebe, Verachtung, Gewalt und Tod rücken hierbei in den Vordergrund und ermöglichen einen ungetrübten, teilweise auch schockierenden Blick in zwei Menschen, die füreinander bestimmt zu sein scheinen.


Pro und Kontra

+ aussagenkräftige, innere Monologe
+ ungeschönte Einblicke in diese Zeit
+ viele Grautöne zwischen den Zeilen
+ sich Zeit nehmend und sehr detailreich

o schwierig zu lesender Jugend-Roman
o simple, aber aussagekräftige Wortwahl

- Handlung versinkt im Hintergrund
- emotional nicht immer nachvollziehbar

Wertung: alt

Handlung: 2,5 / 5
Charaktere: 4,5 / 5
Lesespaß: 3,5 / 5
Preis/Leistung: 4 / 5