Aller Tage Abend (Jenny Erpenbeck)

aller tage abend

Albrecht Knaus Verlag, 1. Auflage 2012
Gebunden, 283 Seiten
€ 19,99 [D] | € 20,60 [A] | CHF 28,40
ISBN: 978-3-8135-0369-2

Genre: Belletristik


Rezension

Die Protagonistin wird 1902 als Tochter eines österreichischen Beamten im galizischen Schtetl Brody, das zu dieser Zeit zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie gehört, geboren. Sie wächst in Wien auf, wird 1920 Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ), emigriert 1933 nach Moskau. Dort übersetzt sie zunächst sowjetische Lyrik für die Zeitschrift „Internationale Literatur“. Nach dem Angriff des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion arbeitet sie beim illegalen antifaschistischen Sender von Radio Moskau. Später wird sie in der DDR Autorin von Belletristik, Theaterstücken, Hörspielen und Reportagen, und sie erhält eine Reihe Auszeichnungen und Literaturpreise. Sie stirbt kurz nach ihrem neunzigsten Geburtstag in einem Berliner Pflegeheim.

Die Biographie der Protagonistin, deren Name erst gegen Ende des Romans genannt wird, verläuft nicht so reibungslos, wie die Inhaltsskizze vermuten lässt. Am Anfang ist der Tod. In Brody stirbt die Hauptfigur in ihrem Geburtsjahr 1902. Der Tod führt in ein neues Leben, das sie 1919 als Siebzehnjährige in Wien fortsetzt, in der Nachkriegszeit, die geprägt ist durch Hunger, soziales Elend und den Untergang der K.u.K.-Monarchie. Sie lässt ihrem Leben ein gewaltsames Ende setzen. Als Mittdreißigerin wird sie Zeugin und Opfer des stalinistischen Terrors und im Winter 1941 erschossen. Als knapp sechzigjährige gefeierte Autorin stirbt sie in Ost-Berlin. Sie beendet ihr Leben endgültig als Neunzigjährige im Pflegeheim.

Nach jedem Tod beginnt die Hauptfigur ein neues Leben, in fünf Büchern, unterbrochen durch insgesamt vier Intermezzi, in denen die Autorin an einer biografischen Stellschraube dreht. Da der Tod nicht das Ende ist und die Hauptfigur ihr Leben unter wechselnden Rahmenbedingungen im jeweiligen Sterbealter fortsetzt, fügen sich die Erzählungen zu einem organischen Ganzen. Wiederkehrende Motive und Phrasen verbinden die einzelnen Lebensabschnitte. Dazu gehört eine zwanzig Bände umfassende Ausgabe der Werke Goethes, Schnee, weiße, milchige Haut, die Bezeichnung der Hauptfigur als „Hure“, die Befindlichkeitsmitteilung zwischen Mutter und Tochter, es gehe (sehr) gut, schließlich GPS-Koordinaten. Für jedes Buch verwendet Erpenbeck ein anderes Erzähltempo, einen anderen Erzählrhythmus. Jedes zeigt eine andere Ausprägung des Totalitarismus und endet an einem existenziellen Scheideweg.

Und immer geht es um die Frage nach dem Leben. Was hätte das Baby erlebt? Was hätte das Mädchen, die Frau anders gemacht? Haben wir die Kontrolle über unser Leben, und wie verhält es sich mit der Freiheit?

Die Autorin schreibt: „Am Ende eines Tages, an dem gestorben wurde, ist längst noch nicht aller Tage Abend.“ In manchen Geschichten wird das Schicksal besiegelt, in anderen besiegelt es die Hauptfigur aktiv. Im ersten Buch ist die physische Existenz von kurzer Dauer, die intellektuelle kann sich nicht entwickeln. Im zweiten Buch dominiert die physische Existenz im vom Hunger geprägten Wien der Nachkriegszeit. Im dritten Buch dominiert die intellektuelle Existenz, im vierten die Erinnerung an die intellektuelle Existenz während der Totenfeier. Im fünften Buch wird, anders als im ersten, die intellektuelle Existenz dem Verfall (durch Demenz) ausgesetzt, während die körperliche ihren normalen Weg geht.

Der Mensch ist, so erfahren wir im ersten Buch, nicht nur die Summe seiner Erfahrungen, sondern auch all dessen, was aus ihm hätte werden können. Der Gedanke taucht unausgesprochen im Weiteren auf. Das natürliche Leben ist jeweils in ein Machtsystem eingebunden. Dazu gehören auch Institutionen, die nicht sofort als Machtsystem erkennbar sind, ein Pflegeheim beispielsweise. Hier stellt sich die Frage nach dem Recht auf Leben als Recht auf die Gewinnung oder Wiedergewinnung dessen, was man ist oder sein kann.

Wie es von der ökonomisch motivierten Heirat zur Prostitution mitunter nur ein kleiner Schritt ist und ein noch kleinerer Unterschied zwischen beiden besteht, dies macht der Roman sehr deutlich. Dieser Schritt erzeugt eine Kluft, in der das gestorbene Baby liegt, und der Mann, der in die USA auswandert, das neue Paradies. Und wie die Erkenntnis und die Scham zur Vertreibung aus dem christlichen Paradies geführt haben, so kommt es zur Umkehrung dieses Motivs auf Ellis Island. Der Mann erkennt, dass er die Scham wieder verlieren muss, um ins Paradies zu gelangen.

Die Lektüre lädt zum Weiterdenken ein. Auch über (vermeintliche) Kleinigkeiten, wie die Frage, ob die Seele eine Unveränderliche ist. Entwickelt sie sich weiter, wird sie mit jedem Leben der Trägerin erneuert? Das Nachdenken über die Seele führt auf die Frage, wie es sich mit den Leben der Hauptfigur verhält. An den Scheidewegen gibt es keine bewussten Entscheidungen, die sie reflektieren könnte. Es kommt also jeweils zu Situationen mit „Was wäre, wenn...“-Charakter und einem Neustart mit veränderten Parametern und Datenverlust. Bei Erpenbeck geht es nicht um die Wahrheit eines Charakters, sondern um das Durchspielen von Alternativen. Die fünf Bücher des Romans präsentieren fünf Sichten auf einen Menschen, auf das, was gelebt werden kann und das, was nicht, weil nur ein Leben möglich ist. Nicht gelebtes Leben als Preis für gelebtes Leben?

„Aller Tage Abend“ scheint mit dem Zufall beschäftigt, liefert tatsächlich aber kausale Erklärungen, nur eben in den Intermezzi und jenseits der Wahrnehmung durch die Hauptfigur. Die Kopplung von biographischen Alternativen ist gerahmt durch Lügen über den Tod und eingebettet in eine Präsentation des zwanzigsten Jahrhunderts als Abfolge repressiver Systeme.


Fazit

Jenny Erpenbeck ist mit „Aller Tage Abend“ ein vielschichtiger und anregender Roman gelungen, der strukturell und inhaltlich das Persönliche mit dem Gesellschaftlichen verbindet und den Zusammenhang im Kleinen und Großen auslotet.


Pro & Contra

+ Einfallsreiche Variante einer bekannten Idee, Struktur mit engen inhaltlichen Bezügen
+ Gibt Impulse zum Weiterdenken

Wertung: 

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesevergnügen: 4/5
Preis/Leistung: 4/5

Dies ist eine Rezension unserer Gastrezensentin Almut Oetjen, vielen Dank!