Der Mann im Park (Pontus Ljunghill)

ljunghill mann

Heyne 2013
Originaltitel: En Osynlig (2012)
Übersetzt von Christel Hildebrandt
Gebunden, 559 Seiten
€ 16,99 [D] | € 17,50 [A] | CHF 24,50
ISBN 978-3-453-26838-8

Genre: Krimi/Historik


Der Autor

Pontus Ljunghill ist Kriminologe und arbeitet als Journalist für verschiedene Zeitungen. Der Mann im Park ist sein erster Roman. Ljunghill lebt in Stockholm.


Inhalt

Stockholm im September 1928: Auf einer stillgelegten Werft wird die schlimm zugerichtete Leiche der achtjährigen Ingrid Bengtsson gefunden. Ingrid wurde gewürgt und dann erschlagen, vermutlich mit einem Polizeiknüppel. Es gibt Hinweise auf ein Sexualdelikt. Der junge, vielversprechende Kommissar John Stierna wird mit den Ermittlungen betraut. Die Leiche wäre vermutlich erst in einigen Jahren gefunden worden, hätte nicht der Landstreicher Harry Schiller ausgerechnet auf der Werft ein Obdach gesucht und dabei die Leiche und den Täter gesehen. Seine Beschreibung jedoch ist zu vage. Obwohl der Mörder am Tatort keine Spuren hinterlassen hat, ist Stierna zuversichtlich und verspricht der verzweifelten Mutter, den Mörder zu fassen. Er überprüft alle einschlägig Vorbestraften, befragt sämtliche Personen in Ingrids Umfeld, rekonstruiert Ingrids letzten Tag und sucht nach Zeugen. Die Spur führt zu einem unbekannten Mann, den Ingrid vor einigen Wochen im Park kennenlernte. Er schenkte ihr Geld für Glanzbilder und behauptete, ihren Vater zu kennen, zu dem sie nie Kontakt hatte. Außerdem schenkte er ihr das Sammelbild eines Läufers. Der Mann aus dem Park meldet sich nicht auf die Zeitungsaufrufe und bleibt verschwunden.

Stierna macht den Besitzer des Wagens ausfindig, den der Mörder für die Tat benutzte. Dieser liefert einen wichtigen Hinweis: der Mann ist ein ausgezeichneter Läufer, hat allerdings einen auffälligen Stil. Stierna lässt die Sportvereine und Sportplätze Stockholms überprüfen und kommt dem Mörder immer näher. Er scheint sein Versprechen an Maria Bengtsson erfüllen zu können.

Fast fünfundzwanzig Jahre später: Stierna kehrt dem Kriminaldienst vorzeitig den Rücken und zieht mit seinen wenigen Habseligkeiten, Kleidung und Tagebüchern, in ein Gasthaus in Visby, Gotland. Der Journalist Börje Grönwall kontaktiert ihn, er schreibe eine Artikelserie über spektakuläre historische Kriminalfälle. Er möchte alles über den Fall Ingrid Bengtsson wissen. Stierna beginnt zu erzählen und sich erneut mit dem Fall zu beschäftigen, der ihn nie losgelassen und den er nie gelöst hat. In wenigen Tagen jährt sich Ingrids fünfundzwanzigster Todestag. Dann verjährt der Mord und der Täter entkäme seiner Strafe.


Rezension

Der Mann im Park ist eine düstere Kriminalgeschichte, die im wesentlichen aus zwei Perspektiven erzählt wird, der des Kommissars und der des Täters. Letztere wird kursiv abgesetzt und erzählt etappenweise die Hintergrundgeschichte des Mörders und seiner Tat. Sie füllt die Lücken der Ermittlungen auf, kommentiert, ergänzt und macht deutlich, wie nahe die Polizei dem Mörder auf der Spur ist.

Die Polizeiarbeit wird ausführlich und präzise beschrieben und überrascht mit ihrer methodischen und sorgfältigen Vorgehensweise. So wird der Tatort genau abgeschirmt und untersucht, die Kleidung des Mädchens ins Kriminallabor gebracht, das Mädchen obduziert. Die Polizei arbeitet mit Statistiken und dem, was man heute Täterprofil und geografisches Profiling nennt. Stierna bildet eine lückenlose Indizienkette, spürt den Mann auf, dessen Wagen der Mörder gestohlen hat, um das Mädchen zum Tatort zu fahren; macht einen Zeugen ausfindig, der den Mann neben eben diesem Wagen zur Tatzeit gesehen hat; folgt einem Hinweis des Autobesitzers, demzufolge der Dieb ein schneller Läufer mit einem allerdings auffälligen Stil war; recherchiert in allen Sportvereinen und auf allen Sportplätzen der Stadt und spürt Zeugen auf, die den Läufer beschreiben können; geht mit den Phantombildern und dem Bild, das Ingrid vom Mann im Park gezeichnet hat, in dem Stadtviertel von Tür zu Tür und findet die Wohnung. Das Netz zieht sich immer enger. Aber es ist wie in der Geschichte von dem Hasen und dem Igel. Der Mörder ist ihnen immer einen Schritt voraus. Präzise und nachvollziehbar beschreibt Ljunghill den Polizeiapparat, Aufbau und Organisation, Arbeitsverteilung und Polizeimethoden, ohne dabei zu überfrachten oder nur eine Ansammlung von zusammenhanglosen Fakten zu liefern. Die einzelnen Fakten sind miteinander verbunden und ein wichtiger Teil der Geschichte.

Neben der Kriminalgeschichte erzählt Ljunghill die Geschichte des Kommissars und des Mörders. Sie sind komplementär angelegt. Nach der Tat beginnt der Mörder Nachforschungen über Stierna anzustellen, vergleicht sich mit ihm, stellt dessen Frau Karolina nach. Der Kommissar wiederum beginnt sich in den Fall zu verbeißen wie ein Besessener. Der Täter verändert mit dem Mord an dem Mädchen das Leben vieler Menschen, darunter das des Kommissars. Stierna wird zu Beginn seiner Karriere vorgestellt und zum Ende. Dazwischen liegen fünfundzwanzig Jahre. Aus dem jungen, ehrgeizigen Kommissar, dem jüngsten in der ganzen Abteilung für Kriminalfälle, mit Ambitionen auf den Posten des Kriminaldirektors, glücklich verheiratet und zufrieden, wird ein vorzeitig gealterter Mann, der die Arbeit nicht mehr ertragen kann. Er geht am Stock und lebt allein. Was ist aus seiner Zuversicht geworden, seinem Selbstvertrauen und seiner Fähigkeit, Menschen zu führen? Wie konnte es soweit kommen? In Friedrich Dürrenmatts Roman Das Versprechen entkommt der Kindermörder, in dem auf seiner Erzählung basierenden Film "Es geschah am hellichten Tag" wird er gefasst. In Ljunghills Roman ist das Ende überraschend.

Die Kriminalgeschichte spielt in der Zeit zwischen 1928 und 1953 vor dem Hintergrund der  Geschichte Schwedens, insbesondere Stockholms. Man erfährt einiges über die Stadt, ihre Entwicklung und ihre Bevölkerung, die Armen und die Reichen, über den Alltag der einfachen Menschen, ihre Hoffnungen und Ängste, sowie über eine Epoche, deren Klima geprägt war von der Weltwirtschaftskrise und dem aufkeimenden Faschismus.  Die Geschichte ist frei erfunden, wie Ljunghill in der Danksagung schreibt, ebenso wie die Figuren, die für die Handlung von größerer Bedeutung sind, und einige Orte. Im Klappdeckel findet der Leser eine Karte von Stockholm aus der Zeit, es empfiehlt sich die Verwendung einer Lupe.


Fazit

Ein düsterer historischer Schweden-Thriller, der viel Wert auf eine sorgfältige Charakterisierung und Psychologisierung der Figuren und eine akribische Entwicklung der Handlung legt, statt auf grelle Effekte oder Spektakuläres. Die spröde Sprache erinnert an Håkan Nesser. Ein großartig erzählter Thriller, der die Intelligenz des Lesers nicht beleidigt.


Pro und Contra

+ sorgfältig konstruierte Mordgeschichte
+ die Geschichte des Täters ist vollkommen plausibel und ohne weiteres nachvollziehbar 
+ die Beziehung zwischen dem Kommissar und seiner Frau Karoline ist sensibel gezeichnet und kippt nie in Peinlichkeiten ab
+ nachvollziehbare Charaktere
+ präzise recherchierter historischer Hintergrund

Wertung: sterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 3/5