Samarkand Samarkand (Matthias Politicky)

politicky samarkand

Hoffmann und Campe, 16.8.2013
Gebunden, 400 Seiten
€ 22,99 [D] | € 23,60 [A] | CHF 36,90
ISBN: 978-3-455-40443-2

Genre: Belletristik, Fantasy


Rezension

Alles scheint in Deutschland seinen Ausgang mit der Wahl des ersten türkischstämmigen Bundeskanzlers, Mehmet Yalçin, im Jahr 2025 zu nehmen. Auf wiederholte Bibelschändungen reagieren die Sicherheitskräfte nicht. Russlanddeutsche schreiten zur Selbstjustiz gegen Deutschländer, Menschen mit türkischem Migrationshintergrund, und erhalten Unterstützung durch Rechtsradikale und Verlierer der dauerhaften sozialen Schräglage. Polizei und Militär zerfallen nach ethnischen Wurzeln. Politiker beschwören, Intellektuelle schweigen in diesem Bürgerkrieg. Aus dem asiatischen Raum drängen islamische Kräfte gen Westen, denen sich osteuropäische Alliierte entgegenstellen. Im Westen kämpfen die Truppen des Kalifen von Bagdad. Gotteskrieger, die „Faust Gottes“, streben die Herrschaft an. Die Deutschländer, die einzigen Deutschen, die ihr Land noch verteidigen wollen, kämpfen im Verbund mit der türkischen Armee, die von Mehmet Yalçin zu Hilfe gerufen wurde. Der Bürgerkrieg weitet sich zum Dritten Weltkrieg aus.

Die Bundeswehr ist keine kriegsfähige Armee, sie unterstützt deshalb die türkische Armee und die Deutschländer logistisch. Die USA haben nach einem militärischen Fiasko im Iran keine Möglichkeit, Europa zu unterstützen. Ihr Schuldenstand ist dramatisch hoch, die chinesischen und arabischen Gläubigerbanken blockieren die Aufstockung des US-Verteidigungshaushalts. Nachdem die Russen Ostdeutschland zurückerobert haben, wird es zur Demokratischen Republik, in der viele Menschen die Rückkehr der guten alten Zeit erwarten. Unterhalten und informiert werden die Menschen in Europa durch Gazprom TV. Der Krieg wird bis nach Alaska und Tadschikistan getragen, weil dort riesige Vorkommen an Bodenschätzen liegen. Obwohl: Tadschikistan haben die Chinesen bereits aufgekauft, da es in den Gletschern große Trinkwasserreservoirs bereithält. Ein weiterer Konfliktherd tut sich auf.

Politicky verknüpft diesen politischen Handlungsstrang mit einer privaten Geschichte, die von dem 58-jährigen Alexander Kaufner erzählt. Kaufner hat seine geliebten Menschen, Kathrin und ihre Tochter Loretta, verloren. Der frühere Gebirgsjäger der Nationalen Volksarmee kennt sich wie kaum jemand in Usbekistan und der Stadt Samarkand aus. Sein Führungsoffizier gibt ihm im Jahr 2027 den Auftrag, in Usbekistans Gebirgen die verborgene Grabstätte Timurs (Tamerlans) zu suchen und zu zerstören. Timur, ein grausamer Eroberer aus dem 14. Jahrhundert, ist das „geheime Kraftzentrum“ der islamischen „Faust Gottes“. Der Westen erhofft sich von Kaufners „Operation 911“ die Beendigung des Dritten Weltkrieges.

Kaufner begibt sich auf eine anstrengende und lebensbedrohliche Mission, eine Quest. Er kann seinem Bergführer nicht vertrauen, wird gedemütigt, zu Zahlungen erpresst, erleidet eine länger andauernde und schmerzhafte Knieverletzung. Kaufner irrt teilweise durch die Geschichte, lernt Menschen kennen, die liebenswert oder grausam und gewalttätig sind, hat bei allem jedoch eine Zielorientierung. Ein Teil der Spannung hängt davon ab, dass wir erst im Verlauf der Handlung erfahren, welches Ziel Kaufner verfolgt, wie wir auch über geschickt zwischengeschaltete Rückblicke eine Vorstellung vom Dritten Weltkrieg bekommen, die jedoch in wichtigen Zusammenhängen nur unvollständig ist.

Der exotische Raum, in dem Kaufner sich bewegt, wird über Puzzleteile oder Mosaiken den Lesern nahegebracht, die sich darüber den fremden Kulturraum und seine Menschen zusammensetzen, weniger erschließen können. Es gibt Übereinstimmungen zwischen den Kulturräumen, darunter die, dass sich Menschen, die über Macht verfügen, in der deutschen Stadt wie im usbekischen Bergland als Wegelagerer betätigen und zwangsweise eine Art Fußgängermaut kassieren.

Die Erzählzeit ist zwar nicht genau begrenzt. Aber Kaufner befindet sich im bekannten Wettlauf gegen die Zeit. Er muss seinen Auftrag erfüllt haben, bevor es zu spät ist. Dieses „zu spät“ ist unbestimmt, hängt jedoch bedrohlich über seiner Suche: der Krieg breitet sich weiter aus und scheint Kaufner gleichsam auf seinem Suchpfad zu folgen. Darin, dass der Aufeinanderprall von Kulturen zum Kampf wird, zeigt sich die Hilflosigkeit oder Unfähigkeit, mit komplexeren Herausforderungen fertigzuwerden. Samarkand Samarkand nimmt Bezug auf den 11.September 2001, über den Politicky auch in Essays geschrieben hat (Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft). Bei Politicky führen nicht westliche Demokratien Krieg gegen islamischen Terror. Er verkehrt die Vorzeichen dieses Gedankens, lässt den Islam Krieg gegen Europa führen, an dem die USA aus Haushaltsgründen nicht teilnehmen können, und ein Deutscher bricht als Terrorist auf, ein mythologisch aufgeladenes islamisches Artefakt zu zerstören.

Politickys Roman ist ein dystopischer Zukunftsentwurf, der keinen phantastischen Weltenbau betreibt, sondern in Details die Gegenwart spiegelt. Schon darin unterscheidet er sich grundlegend von Christian Krachts 2008 erschienenem Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, der im Jahr 1917 beginnt und eine Alternativgeschichte des 20. Jahrhunderts erzählt. Mehr Gemeinsamkeiten weist er da schon mit Matt Ruffs The Mirage aus dem Jahr 2012 auf, der 2014 bei dtv in deutscher Übersetzung als Mirage erscheinen soll. Ruff erzählt zwar auch eine Alternativweltgeschichte, kehrt aber ebenfalls die Verhältnisse um: bei ihm sieht 9/11 so aus, dass christliche Fundamentalisten Flugzeuge in die Türme des Welthandelszentrums von Bagdad und in das arabische Verteidigungsministerium in Riad steuern, während Passagiere das für Mekka bestimmte Flugzeug zum Absturz bringen. Die Geschichten gehen aber stilistisch und inhaltlich andere Wege.

Politicky arbeitet mit einer Vielzahl an Verweisen auf aktuelle Geopolitik, auf Rohstoffkriege, auf die DDR und die Wiedervereinigung. Die Verweise werden gelegentlich zur Karikatur getrieben, wie beispielsweise die US-Haushaltsproblematik. Es gibt keine Zukunftstechnologien, Samarkand Samarkand ist weit entfernt von der Science Fiction. Die Reiseerzählung ist ein Sujet, in dem Politicky heimisch ist. So hat er 2001 Das Schweigen am andern Ende des Rüssels und 2008 In 180 Tagen um die Welt. Das Logbuch des Herrn Johann Gottlieb Fichtl geschrieben. Kaufners Quest hat etwas von einem spannenden Reiseabenteuer, mit Anklängen an Joseph Conrads Herz der Finsternis.


Fazit

Matthias Politickys Samarkand Samarkand kombiniert in stilistisch anspruchsvoller und ansprechender Weise den Reiseroman mit der Dystopie.


Pro und Contra

+ endlich einmal wieder ein guter politischer Roman, der nicht ins Deutsche übersetzt werden muss
+ „Operation 911“ als Quest
+ Dystopie wird plausibel aus geopolitischer Gegenwart entwickelt
+ enthält zwei Karten im Vor- und im Nachsatz

o detaillierte Beschreibungen grausamer Szenen

- Verweis auf 9/11 etwas plump

Wertung:sterne4.5

Handlung: 5/5

Charaktere: 4/5

Lesespaß: 5/5

Preis/Leistung: 4/5