Zwischenspiel (Monika Maron)

maron zwischenspiel

S. Fischer, 2013
Gebunden, 191 Seiten
€ 18,99 [D] | € 19,60 [A] | CHF 31,90
ISBN: 978-3-10-048821-3

Genre: Belletristik


Inhalt

Am Tag des Begräbnisses von Olga verschwimmen beim Lesen der Zeitung die Buchstaben vor Ruths Augen. Kurz darauf sieht Ruth auf dem Balkon eine Wolke, die rückwärts an ihr vorbeizieht. Sie nimmt ihre Umwelt nur noch in impressionistischen Bildern wahr. Ruth verzweifelt nicht, sondern entwickelt Interesse an ihrer Situation. Sie ist sechzig Jahre alt, wäre vor mehr als dreißig Jahren in der DDR beinahe die Schwiegertochter von Olga geworden, und sie will Bernhard, Olgas Sohn, ihren Beinahe-Ehemann, auf keinen Fall sehen. Sie hat eine Tochter mit ihm, Fanny, verließ ihn, weil er seinen schwer behinderten Sohn Andy mit in die Ehe bringen wollte, der Ruths ganze Aufmerksamkeit bis zum Tode eines von beiden gefordert, außerdem die Vernachlässigung der eigenen Tochter bedeutet hätte. Sie liebte Bernhard nicht genug, um auch Andys Mutter sein zu wollen. Ruth folgte mit Fanny dem „staatsfeindlichen“ Schriftsteller Hendrik nach Westberlin. Hendrik, das erfuhr Ruth erst Jahre später, benutzte seinen Freund Bruno als Gedankenlieferanten für seine Bücher. Mit Brunos Tod ging dies nicht mehr, weshalb Hendrik in der Versenkung verschwand.

Während der Fahrt zum Friedhof gibt das Navigationsgerät Ruth Anweisungen, die sie in einen Park führen, in dem sie Begegnungen mit Lebenden und den Geistern von Menschen hat, die in ihrer Vergangenheit eine Rolle spielten. Darunter befinden sich die Geister Olgas und Brunos, Margot und Erich Honeckers. Ruth freundet sich mit einem Hund an, der sie zu Gedanken über ihre Kindertage bringt, ihren eigenen Hund Nicki und den ungewollten Vaterersatz, den sie Sekretär nennt. Schließlich hat sie eine Begegnung mit dem Bösen.


Rezension

Die Frage nach Schuld ist zentral für die Gedanken Ruths und die Gespräche, die sie im Park führt. Schon ihre Entscheidung, gegen ihr Interesse doch zur Beerdigung Olgas zu fahren, wird aus dieser Vorstellung abgeleitet. Die Gesamtheit der Gespräche zeigt die Komplexität des Schuldproblems auf. Ist eine Schuld konstant, wird sie im Lauf der Zeit weniger oder mehr? In Zeiten der Bankenkrise, die von Monika Maron angeschnitten wird, lässt sich fragen: verringert sich der Schuldbestand, wird sie also abgeschrieben oder entwertet, oder trägt sie im Zeitverlauf Zinsen? Einer Vorstellung von moralischem Zinsverbot folgend, kommt Olga folgerichtig zu der Einsicht: „Schuld bleibt immer, so oder so“.
Bernhard arbeitete für die Stasi als IM Modigliani, benutzte Fanny, um Ruth auszuspionieren, Ruth hat Bernhard die Tochter weggenommen: ist, wenn Schuld bleibt, wenigstens eine Saldierung möglich? Wie schuldig wird man dadurch, dass man an fremder Schuld Anteil bekommt allein durch die eigene Ohnmacht?

Zwischenspiel handelt nicht nur von Schuld, sondern thematisiert auch das Alter, das verzweifelte Leben-Wollen (vor allem in einer interessanten Diskussion über Alkoholismus), das Lieben und das Verlassenwerden. Im Kleinen finden sich in Monika Marons Buch, dessen Handlung an einem Tag und überwiegend einem Ort sich ereignet, einige schöne Ideen. Darunter die Vorstellung vom Menschen als Summe oder Abfolge seiner Ichs, die sich im Laufe des Lebens bilden und über multiple Persönlichkeiten, die Ausdruck der Tatsache sind, dass sich ein Mensch nicht von seinen früheren Ichs trennen kann, auch über zwanghafte Ich-Bewahrung in der Schizophrenie. Weitergedacht: Lädt ein Mensch Schuld auf sich, spaltet er das verantwortliche Ich ab und legt sich ein neues zu. Das kann funktionieren oder auch nicht.


Fazit

Monika Maron hat mit Zwischenspiel einen Roman vorgelegt, der problemlos als Novelle durchgeht und in beiden Etikettierungen ein feines Stück Literatur bedeutet. Das Leben als Traum, ein Wechselspiel zwischen Fantastik und Realismus mit hoher Durchlässigkeit, durch die Sehstörung zur Deckung gebracht.


Pro und Contra

+ im Wechsel von Handlung und Reflexion gut austarierter Text
+ geht auch der Frage nach, warum es der Teufel einem so leicht und Gott so schwer macht

- der intelligente Bruno sondert auch einige Platitüden ab

Wertung: sterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lektüreertrag: 4/5
Preis/Leistung: 4/5


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