Liebesgeschwüre (Ina Brinkmann)

uBooks, 1. Auflage März 2013
Hardcover, 288 Seiten
13,95 € (D)
ISBN: 978-3-939239-38-3

Genre: Anti-Pop


Klappentext:

Manchmal wäre es besser, wenn es keine Hoffnung mehr gäbe, dann könnte man einfach sterben und das Leid hätte ein Ende.

Wer gewonnen hat, ist mir egal! Davon verstehe ich sowieso nichts … Aber ich entscheide mich jetzt!

Ein Junge, der eigentlich nie eine Chance hatte. Ein Junge, der allein durch den Glauben an seine geliebte Schwester sein Leben erträgt. Diese Liebe frisst ihn am Ende auf wie ein Metastasen bildender Krebs.


Rezension:

Manu ist 13 Jahre alt und hat in seinem Leben nicht viel Gutes kennen gelernt. In einer Spirale aus Sex und Gewalt aufgewachsen befindet er sich in der Obhut seiner Schwester, die er über alle Maßen liebt, als ihn eines Tages ein Ehepaar aufgreift. Doch statt sich zum Besseren zu wenden, wird sein Leben nur noch schlimmer, soweit das überhaupt möglich ist. Denn dieses Ehepaar hat nicht etwa vor, dem Jungen endlich die verdiente Liebe zu geben, stattdessen verkauft es Manu als Stricher regelmäßig an zwielichtige Freier. Der Junge legt sich ein dickes Fell zu und hält sich immer weiter mit Erinnerungen an eine scheinbar bessere Zeit am Leben, indem er an seine Schwester denkt und sich an seiner Liebe zu ihr festhält. Doch es scheint keinen Ausweg aus diesem menschenunwürdigen Karussell zu geben, in dem er zur Strafe in eine Regentonne gesteckt wird, was ihn irgendwann das Leben kosten könnte – denn bei starken Regenfällen steigt das Wasser immer höher. Und plötzlich wieder ein vermeintlicher Hoffnungsschimmer am Horizont, denn jemand befreit ihn aus der Tonne. Die Hoffnung währt allerdings nicht allzu lange, denn es ist einer seiner Freier – und zwar ausgerechnet derjenige, der erst vor einiger Zeit ohne Gummi und ohne jede Vorwarnung mit ihm geschlafen hatte. Könnte er trotzdem derjenige sein, der Manu aus dem ganzen Elend befreit und ihm endlich ein schöneres Leben ermöglicht?

Ina Brinkmann weiß ganz genau, wie sie ihre Leser in einen echten Leserausch versetzen kann, obwohl die Thematik alles andere als unterhaltsam ist. Schon mit ihrem Debüt Herzmassaker konnte sie auf eine beeindruckende Art beweisen, dass sie die Wortkunst fest im Griff hat. Fast zwei Jahre später erblickte ihr zweiter Roman Liebesgeschwüre endlich das Licht der Welt und wieder erfährt das Anti-Pop-Genre eine neuerliche Definition. Denn auch hier wird dem Leser kein einfaches, eigentlich sogar ein sehr erschreckendes, allerdings auch immer noch totgeschwiegenes Thema vorgesetzt, das von Ina Brinkmann auf eine schonungslose Weise nahezu ausgeschlachtet wird. Immer wieder überkommt den Leser eine unbändige Lust, das Buch zu unterbrechen und dadurch Manu und auch sich selbst eine kleine Auszeit von diesem Schicksal zu gewähren – aber Weglegen und die Augen zumachen ist in diesem Fall einfach keine Option. Wie gefesselt muss man jede Seite umblättern und immer tiefer in den Sog der Geschichte eintauchen, die mit jedem Wort, mit jeder Zeile schlimmer zu werden scheint. Trotzdem kann man nicht aufhören und ist somit fast 290 Seiten lang wie in einem Bann gefangen, aus dem es kein Entrinnen gibt. Viel zu sehr leidet man mit dem Protagonisten mit, hofft auf Besserung und möchte sich so manches Mal in die Geschichte einklinken, um es dem armen Jungen leichter zu machen oder ihn wenigstens darauf hinzuweisen, in welchen Abgrund er sich begeben wird, wenn er seinen Weg weitergeht. Gleichzeitig ist dem Leser aber auch klar, dass es manchmal vielleicht einfach keinen anderen Weg als den vorgezeichneten gibt.

Zum Durchatmen bleibt dem Leser als während der Lektüre nicht viel Zeit und auch nach dem Lesen wird er sich noch lange mit dem Thema beschäftigen. Liebesgeschwüre ist brutal und ohne Gnade, obwohl es zum Teil doch auch um Liebe geht. Aber eben um eine, die in den Abgrund und bis an die Grenzen treibt. Nicht immer nachvollziehbare, aber in jeder Hinsicht schockierend fesselnde Gedankengänge gehen Hand in Hand mit einer nicht angenehm auffallenden Lebensart einher – daran ändert auch nichts die wortgewaltige Sprachschönheit, mit der Ina Brinkmann auch in ihrem zweiten Roman durchaus wieder zu spielen weiß. Es ist eine perfide Mischung aus einem hässlichen Thema, das in teilweise schöne Worte gepackt wurde und gerade dadurch auf zermürbende Weise fesselt. Man liest einen gewissen Zorn zwischen den Zeilen, ohne dabei genau zu wissen, gegen wen oder was sich dieser wirklich richtet. Und genau diesen Zorn spürt der Leser auch in sich selbst, denn man muss sich leider immer wieder vor Augen halten, dass es sich bei dieser speziellen Geschichte vielleicht um Fiktion handelt, die Inspiration dazu aber viel zu oft im wahren Leben zu finden ist. Nahezu an der nächsten Straßenecke, wenn man so will. Das alles macht die Lektüre von Liebesgeschwüre sicherlich nicht einfach und der Roman ist ganz sicher nicht für zartbesaitete Seelen geeignet. Doch das Thema an sich ist zu wichtig, um es einfach unter den Tisch fallen zu lassen, auch wenn es hart und schmerzhaft ist, der traurigen Wahrheit in ihr hässliches Gesicht zu schauen. Ein Roman, der seinesgleichen sucht und der hoffentlich irgendwann tatsächlich nur noch eine traurige Geschichte ist.


Fazit:

Zwei Erzählstränge, die zu einer schockierenden, mitreißenden und mitnehmenden Geschichte miteinander verwoben sind – Ina Brinkmann beweist auch mit ihrem zweiten Roman, wie großartig sie mit der Macht der Worte umzugehen weiß. Liebesgeschwüre greift ein leider immer noch totgeschwiegenes Thema auf, beleuchtet es von verschiedenen Seiten und nimmt den Leser mit auf einen Weg, der nur in eine Richtung zu gehen scheint – mitten ins Verderben des Protagonisten. Mit Vorsicht zu genießen, aber lesenswert und in jedem Fall lange nachhallend.


Wertung:

Handlung: 4/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 3,5/5
Preis/Leistung: 4/5


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