Mr. Mercedes (Stephen King)

king-mercedes

Heyne 2014
Originaltitel: Mr. Mercedes (2014)
Übersetzt von Bernhard Kleinschmidt
Gebunden, 591 Seiten
€ 22,99 [D] | € 23,70 [A] | CHF 33,90
ISBN: 978-3-453-26941-5

Genre: Krimi, Thriller


Inhalt

Im Mittleren Westen der USA fährt an einem nebligen Aprilmorgen des Jahres 2009 ein Unbekannter in einem gestohlenen Mercedes S 600 in eine Menge Arbeit suchender Menschen, tötet acht von ihnen und verstümmelt weitere. Detective William „Kermit“ Hodges wird pensioniert, ohne diesen, seinen letzten, Fall gelöst zu haben. Monate später erhält er einen Brief, in dem sich der Mercedes Killer bei ihm meldet und ihn zu einem perfiden Duell herausfordert. Er will tausende Menschen während einer großen Veranstaltung mit einer Bombe töten, wenn nicht Hodges sich selbst das Leben nimmt.


Rezension

Stephen Kings Kriminalroman und Thriller Mr. Mercedes kommt, anders als Joyland, ohne übernatürliche Elemente aus. Der Killer ist der 28-jährige Brady Hartfield. Mit der Bekanntgabe seines Namens wird nichts verraten, da King ihn nach dem Prolog einführt und (unregelmäßig) in der Erzählung zwischen Hodges und Hartfield wechselt. Hartfield wohnt noch bei seiner Mutter, einer Alkoholikerin, mit der er ein perverses Verhältnis hat.

„(W)as Reisen angeht, interessiert seine Mutter sich inzwischen nur noch für eine einzige – für die Panoramatour vom Sofa zu ihrem Schnapsdepot und wieder zurück.“ (S. 297)

Alleine die Szenen zwischen Mutter und Sohn deuten darauf hin, dass es sich bei Mr. Mercedes nicht einmal näherungsweise um ein Jugendbuch handelt. Aber Mutter und Sohn verbindet über dieses Verhältnis hinaus noch eine andere Sache, die es in sich hat. King gelingt hervorragend die Motivierung des Täters, in dessen Innenleben er uns tief hineinzieht. Kings Killer liebt Mutter, hasst den Rest der Menschheit, aber er kann normal mit seinen Mitmenschen kommunizieren, lässt sich nichts anmerken, hat zwei Jobs, mit denen er sich und Mutter versorgt. Vormittags arbeitet er in dem Discounter Electronix und hilft Kunden als Mitglied der Cyber Patrol bei Computerproblemen. Nachmittags fährt er mit einem Wagen als Eisverkäufer durch die Stadt. Hartfield ist eine tragische Figur, die man dennoch hasst, kein künstliches Monster, sondern ein Mensch, der zum Gruseln ist und Ähnlichkeiten mit Norman Bates aufweist.

Hartfields Gegenspieler Hodges verbringt den Großteil seines Rentnerdaseins vor dem Fernsehgerät, sieht sich dumme Shows an und spielt mit der Smith & Wesson seines Vaters sowie dem Gedanken, sich zu erschießen. Hat er, der geschieden ist und dessen Tochter sich alle paar Jahre mal bei ihm telefonisch meldet, schon fast mit seinem Leben abgeschlossen, holt ihn Hartfields Brief in eben dieses zurück. Statt den Brief bei seiner alten Dienststelle abzugeben, will er den Fall selbst lösen. Er kommuniziert mit dem Killer über die Website "Under Debbie’s Blue Umbrella", die höchste Anonymität gewährleistet.

Der 62-jährige Hodges erhält Unterstützung von der 45-jährigen Janelle Patterson, der Schwester der Frau, deren Mercedes für das Massaker verwendet wurde, und die sich anschließend von Hartfield in den Suizid treiben ließ. Später kommt Janelles Cousine Holly Gibney dazu, eine 44-jährige Frau, die von ihrer Mutter bevormundet wird und Psychopharmaka nimmt. Holly ist eine der modernen Vertreterinnen mit Persönlichkeitsstörung, wie Monk und Lisbeth Salander. Der letzte in dieser seltsamen Ermittlergruppe ist der 17-jährige Jerome Robinson, ein afro-amerikanischer Musterschüler, der sehr gut mit Computern umgehen kann. In seiner nicht alltäglichen Ermittlergruppe vereint King drei Generationen, zwei Ethnien und Geschlechter, verschiedene psychische Zustände und Perspektiven auf die Gesellschaft.

Der Roman weist ein paar Schwächen auf, darunter die alte Mafiageschichte, die ihre Auflösung darin findet, dass Mafiosi im Schwarzenviertel ein Geschäft betreiben, in dem Panzerfäuste und andere schwere Waffen zum Warenangebot gehören. Das riesige Waffenarsenal wird just unter Einsatz aller Polizeikräfte ausgehoben, als Hartfield seinen Anschlag durchführen will. Deshalb stehen keine Polizeikräfte zur Verfügung, die das Ermittlertrio unterstützen könnten – zumindest will Hodges dies glauben.

Die Szenen, die den Roman lesenswert machen, überwiegen jedoch. Die Sektion eines Talkshow-Nachmittags auf sieben Seiten gehört mit zu den besten Teilen des Romans. Im Prolog beschreibt King, wie zwei Menschen, die zum sozialen Rand gehören, sich in einer Warteschlange kennenlernen. In gut gestrickten Dialogen und Szenenbeschreibungen liefert er ein Bild des Kampfs um einen Platz in der Gesellschaft, wie es der sonntägliche Weltspiegel auch nicht besser könnte. Der Prolog bestimmt den sozio-ökonomischen Ort der Erzählung, einen Ort, der im Weiteren nur in Momenten Erwähnung findet, jedoch in diesen ungeheuer präsent ist. Zugleich bereitet der Prolog das Terrain für eine Erzählung, in der alles möglich scheint und King dies als Basis nutzt, einige harte Details zu platzieren und die Leserwahrnehmungen zu manipulieren. Auffällig ist, dass King den Prolog zeitlich gegen Ende der großen Rezession setzt – der Aufschwung im Mittleren Westen begann im Juni 2009 und flachte erst im Mai 2012 wieder ab.


„Die Wahrheit ist Finsternis, und es kommt einzig und allein darauf an, ein Statement abzugeben, bevor man in sie eintritt. Die Haut der Welt aufzuschlitzen und eine Narbe zu hinterlassen. Schließlich ist das alles, woraus die Menschheitsgeschichte besteht: Narbengewebe.“ (S. 440)

Das Akronym für den Killer wird so ausgesprochen wie der Name der deutschen Bundeskanzlerin im Englischen.


Fazit

Mr. Mercedes ist ein Thriller, der ein Duell zwischen Gut und Böse, einen Wettlauf gegen die Zeit zum Thema hat. Dass es nicht darum geht, wer der Killer ist, wird sehr schnell deutlich. Hartfield und Hodges sind zwei exzellent motivierte Charaktere.


Pro und Kontra

+ nachvollziehbares Szenario
+ gute Charakterbeschreibungen
+ ein Massenmörder ohne metaphysische Facette, menschlich Mittelmaß und glaubhaft im Alltag eingebettet
+ dynamische Dialoge

- gelegentlich etwas weitschweifig, vor allem in Nebenhandlungen und -figuren

Wertung:sterne4

Inhalt: 3,5/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5


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Tags: Stephen King, USA