Die linke Hand der Dunkelheit (Ursula K. Le Guin)

leguin linkehand

München 2014, Heyne
Originaltitel: The Left Hand of Darkness (1969)
Übersetzt von Gisela Stege
Übersetzung der Vorbemerkung von Erik Simon
Taschenbuch, 397 Seiten
€ 8,99 [D] | € 9,30 [A] | CHF 13,50
ISBN: 978-3-453-31594-5

Genre: Science Fiction


Inhalt

Der terranische Ethnologe Genly Ai besucht als Abgesandter der intergalaktischen Koaliton humanoider Welten, der Ökumene,  den Planeten Gethen, der nur eine Jahreszeit kennt, den Winter, und von den Terranern deshalb als Winterplanet bezeichnet wird. Gethen unterteilt sich in die Herrschaftsbereiche Karhide und Orgoreyn. Ai soll Verhandlungen mit dem Ziel führen, die Gether in die Ökumene aufzunehmen, um den Außenhandel und den kulturellen Austausch zu fördern. Da Ai aus einer anderen Welt kommt, misstrauen die Gether ihm, obwohl er unbewaffnet ist und sie sein Schiff untersuchen dürfen. Der karhidische Premierminister Estraven gehört zu den Wenigen, die ihm glauben und sein Angebot schätzen, weshalb er den König davon überzeugt, Ai zu empfangen. Kurz vor der ersten Audienz jedoch wird Estraven als Verräter bezeichnet und flieht nach Orgoreyn. Nachdem der König Ais Einladung, der Ökumene beizutreten, abgelehnt hat, reist Ai nach Orgoreyn, wo er seine Mission fortsetzen will. Estraven warnt Ai, er solle den Führern von Orgoreyn nicht vertrauen.


Rezension

Ursula Kroeber Le Guin begann 1966 mit Rocannon’s World (Rocannons Welt, 1977) ihren Hainish-Zyklus. Im Hainish-Universum besiedelten die Bewohner des Planeten Hain ursprünglich alle bewohnbaren Planeten und erzeugten, bedingt durch die lokalen Besonderheiten, über Mutationen ein System humanoider Welten. Diese Welten weisen historische Kontinuität und große, vor allem kulturelle Unterschiede auf. So treffen verschiedene Formen von Zivilisationen aufeinander, die dennoch grundsätzlich zur Kommunikation in der Lage sind.

Nach Planet of Exile (1966; Das zehnte Jahr, 1978) und City of Illusion (1967; Stadt der Illusionen, 1979) folgte 1969 als vierter Band The Left Hand of Darkness. Unter der Nr. 3400 in der Bibliothek der Science Fiction Literatur brachte Heyne 1974 die Erstveröffentlichung des Romans unter dem Titel Winterplanet heraus. Eine Sonderausgabe erschien 1991 in der Reihe Heyne Science-fiction & Fantasy Band 84. Als Die linke Hand der Dunkelheit wurde der Roman 2001 in der Reihe Heyne Science-fiction & Fantasy Band 8207 veröffentlicht. Die aktuelle Ausgabe ist ein Neudruck im Rahmen der großen Heyne Science-Fiction-Jubiläums-Edition aus dem Jahr 2014.

Liest man dieser Tage erstmals Die linke Hand der Dunkelheit, fällt besonders die Form auf. Es gibt verschiedene Ich-Erzähler, die aus ihrer persönlichen Sicht Ereignisse und Einschätzungen wiedergeben. Ai fertigt für die Ökumene ein Dossier, bestehend aus seinen persönlichen Aufzeichnungen, Estravens Notizen, Aufzeichnungen des Investigators der ersten ökumenischen Landegruppe auf Gethen, karhidischen Herdgeschichten, Auszügen aus einem Heiligen Buch und einer Schöpfungslegende. Dadurch entsteht ein fragmentiertes Werk, das mit einer ebensolchen Leseerfahrung verbunden ist und die Komplexität erhöht. Gelegentlich erfährt man erst nach ein paar Sätzen, wer der Ich-Erzähler ist.

Ende der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts war Le Guins Vorgehen innovativ und ist für heutige Leser und Leserinnen nicht ungewöhnlich. Unser Informationsstand entspricht dem Ais, dessen sich entwickelndes Verständnis der fremden Kulturen wir mitsamt Vorurteilen und Fehleinschätzungen im Detail nachvollziehen können. Die Dokumente sind so in die Erzählung Ais eingefügt, dass sie unser Verständnis fördern.

Auf Gethen gibt es zwei Herrschaftssysteme, das sozialistische Orgoreyn und die Monarchie Karhide, die sich in der Transformationsphase zur Diktatur befindet. Beide Herrschaftsformen unterdrücken das Individuum und versuchen, Stabilität zu erzeugen durch Erstarrung, was misslingen muss. Die politischen Systeme auf Gethen kennen zwei Religionen, die in ihren Unterscheidungen gebunden sind an politische und kulturelle Differenz der Herrschaftsbereiche. Karhides Handdara ist eine alte, dem Taoismus entlehnte Religion, während Yomeshta auf Orgoreyn vorherrscht, monotheistische Tendenzen spiegelt und einen Absolutheitsanspruch erhebt.

"Meine Zimmerwirtin, ein überaus wortreicher Mann,..."

Die Bewohner von Gethen, die Gether, sind Hermaphroditen. In der monatlich wiederkehrenden kurzen Zeit Kemmer, in der sie Sex miteinander haben und Nachwuchs zeugen, nehmen sie ein Geschlecht an, ohne dies beeinflussen zu können. Die Gether kennen kein soziales Geschlecht, folglich auch keine sexuelle Diskriminierung und Arbeitsteilung, die Männer- und Frauenarbeit kennt. Kriege gibt es auf Gethen nicht. Die soziale Konditionierung wird thematisiert in der Wahrnehmung der Gether, besonders Estravens, durch Ai.

Ais Bemühungen, die fremde Kultur zu verstehen, werden erschwert durch sein Denken in Kategorien von sozialem und biologischem Geschlecht. Er ist stolz darauf, ein Mann zu sein, versieht sich gerne mit männlichen Attributen, sieht die Gether als männlich und fühlt sich abgestoßen durch an ihnen beobachtbare Merkmale von Weiblichkeit. Er fühlt sich nur in einer Welt des Geschlechterdualismus wohl, einer Welt, in der die männliche Hälfte die weibliche Hälfte zur Vereinigung sucht, nicht, in der Ganzheit herrscht. Je mehr Ai sich dieser Welt ausgesetzt sieht, desto einsamer fühlt er sich. Erst durch Estraven lernt er, die Begriffe Mann und Frau durch Mensch zu ersetzen.

"Der König war schwanger"

Ursula Le Guin hat mit Die linke Hand der Dunkelheit ein Buch veröffentlicht, das einen gesellschaftlichen Wandel thematisierte und zur gleichen Zeit ein Bestandteil dieses Wandels war, wie die Verfasserin in ihrem Vorwort ausführt.


Fazit

Die linke Hand der Dunkelheit, dessen Sprache man als zerebral bezeichnen könnte, spricht eher diejenigen an, die den Inhalt reflektieren, weniger hingegen diejenigen, die lieber eine gerade heraus erzählte Story mit Spannungsbögen und Cliffhangern bevorzugen. Die Leser und Leserinnen erwartet ein fein gearbeitetes Werk mit interessanten Gedanken zu Menschlichkeit, Entfremdung, Integration, Vorurteilen, Liebe und Verrat.


Pro und Kontra

+ instruktives Vorwort von Le Guin, in dem sie sich zu ihrer Arbeit als Schriftstellerin und zum Buch äußert
+ sehr lesenswerte Science Fiction über das Aufeinandertreffen fremder Kulturen

Wertung: sterne5

Inhalt: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5


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Tags: SF-Autorinnen, SF-Klassiker, feministische Science Fiction , Ursula K. Le Guin