Der lange Abschied (Raymond Chandler)

chandler abschied

Diogenes 2009 (33. Auflage)
Originaltitel: The Long Good-Bye (1953)
Übersetzt von Hans Wollschläger
Taschenbuch, 384 Seiten
€ 10,90 [D] | € 11,30 [A] | CHF 17,90
ISBN: 978-3-257-20207-6

Genre: Krimi, Noir-Thriller


Inhalt

Chandler eröffnet den Roman damit, dass Marlowe den hilflosen Betrunkenen Terry Lennox vor einem Lokal aufliest und nach Hause bringt. Wenig später trifft Marlowe ihn wieder, dreckig und heruntergekommen auf einem Bürgersteig. Er nimmt ihn mit und rettet ihn damit vor eine Einweisung in die Ausnüchterungszelle der Polizei. Lennox reist nach Las Vegas, wo sein Freund Randy Starr ihm einen Job geben will. Von dort schickt er Marlowe einen Barscheck und eine Weihnachtskarte mit der Nachricht, dass er seine Frau Sylvia zum zweiten Mal geheiratet hat. Sylvia ist die Tochter des allmächtigen Verlegers und Multimillionärs Harlan Potter, reich, schön, oberflächlich und flatterhaft.

Marlowe freundet sich mit Lennox an, dessen Abscheu vor seiner hurenden Frau und ihrem Geld ihn zusätzlich sympathisch macht. Fünf Monate nach der Hochzeit bittet Lennox Marlowe, ihn nach Tijuana zum Flughafen zu fahren. Sylvia wurde ermordet, er gibt sich die Schuld. Doch Marlowe hält ihn für unschuldig. Zurück in Los Angeles wird Marlowe bereits von der Polizei erwartet, die ihn über Lennox’ Verbleib ausfragen will. Er schweigt und kommt dafür ins Gefängnis. Nach einigen Tagen wird er entlassen, da die Polizei den Fall abgeschlossen hat: Lennox hat in einem Hotelzimmer des mexikanischen Kaffs Otatoclan Selbstmord begangen und ein schriftliches Geständnis hinterlassen. So wenig wie Marlowe Lennox für den Mörder hält, glaubt er, dass Lennox sich umgebracht hat.


Rezension

Der Roman, der zuerst "Summer in Idle Valley" heißen sollte, entstand zwischen 1951 und 1953. Im Mai 1952 schickte Chandler eine erste Fassung an seine Agentur Brandt & Brandt, die einige kleine Änderungen vorschlug. Chandler sicherte die Korrekturen zu, trennte sich aber bald von der Agentur. Er überarbeitete das Manuskript vollständig und beendete es im Sommer 1952. Der lange Abschied ist bis auf den kurzen Abschnitt, in dem Lennox verkleidet zu Marlowe kommt (Der Vorhang, 1936), originär und Chandlers letzte eigenständige große Prosaarbeit. Der recht kurze Roman Playback, den er danach schrieb, beruhte auf einem älteren Drehbuch. Chandler hielt seinen sechsten Roman für seinen besten. Er war sein längster Roman und auch sein ehrgeizigster, denn er führte einige wichtige Änderungen hinsichtlich Stil und Ton ein.

Die Handlung entfaltet sich langsamer als in seinen bisherigen Werken, und der Schwerpunkt liegt nicht mehr auf dem Plot und den Charakteren, sondern auf dem Konzept der Freundschaft. Die Kriminalhandlung wird sekundär und dient dazu, die Geschichte über Beginn und Ende einer Freundschaft voranzutreiben. Wichtiger als die kriminellen Verwicklungen und die Täterfrage sind psychologische, soziale und politische Aspekte. Chandler seziert genau und kritisch die US-Gesellschaft, Geld und Macht, Ehre und Moral. Besonderes Augenmerk legt er auf die Literaturszene. Da ist der Verlagsmitarbeiter Spencer, der Manuskripte, ohne sie gelesen zu haben, ablehnt, wenn sie persönlich und nicht von einem New Yorker Agenten übergeben werden. Aber auch der Schriftsteller Wade, der „Quatsch“ schreibt, weil er damit viel Geld verdient, entgeht nicht der Kritik. Und natürlich sind die von ihm verhassten Reichen Zielscheibe seiner Kritik. Harlan Potter, der allmächtige Zeitungstycoon, hat gar nichts mehr nötig, nicht mal mehr Bestechung. Der Lennox-Fall, ein saftiger Skandal, in den seine Tochter involviert ist, stirbt nach kurzer Erwähnung in der Presse. Die einzige Zeitung, die Eileens Geständnis druckt, ist unabhängig.

Auch die Stadt Los Angeles, Gangster und Polizei, deren Unterschiede sich in der Figur Starr, der Gangsterboss und Polizeichef von Las Vegas in Personalunion ist, auflösen, werden attackiert. Marlowe scheint inzwischen alles und jeden zu verabscheuen, selbst seinen langjährigen Bekannten Bernie Ohls von der Polizei. In Der tiefe Schlaf mochte er zumindest noch General Sternwood, trotz seines Reichtums. Nun gefällt ihm niemand mehr. Marlowe wirkt enttäuscht, nachgerade verbittert. Selbst in seinem Anti-Hollywood-Roman Die kleine Schwester empfand er noch Sympathien für die Schauspielerin Mavis Weld. In Der lange Abschied gibt es nur eine ansatzweise sympathische Figur, seine spätere Ehefrau Linda Loring. Doch sie verlässt das Land, reist nach Paris und lässt ihn allein und deprimiert zurück. Der Roman über den langen Abschied von einem Freund entstand zu der Zeit, als Chandlers Frau an einer unheilbaren Krankheit dahinsiechte.

Chandler wurde für Der lange Abschied mit dem „Mystery Writers of America Award“ für die „Best Mystery Novel“ 1954 geehrt.


Fazit

Der lange Abschied handelt die Krimihandlung knapp ab und erzählt eine Geschichte über Liebe und Verrat, Verlust und Einsamkeit. Eine Art Schwanengesang eines der besten Krimischriftsteller.


Pro und Kontra

+ zeigt Marlowe als sentimental und ritterlich
+ großartige Verbindung aus Zynismus und Melancholie
+ hervorragende Dialoge und Charaktere
+ lesenswertes Zeitbild

Wertung: sterne5

Inhalt: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5


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Tags: Noir, Hardboiled-Kriminalroman, Raymond Chandler