Die Ummauerte Stadt (Jan Reschke)

Papierverzierer (September 2014)
Paperback, Klappenbroschur
400 Seiten, 14,95 EUR
ISBN: 978-3-944544-98-4

Genre: Dystopie / Science Fiction


Klappentext

Seit dem Zusammenbruch der alten Weltordnung sind die Menschen in der Ummauerten Stadt einer totalitären Kontrolle ausgeliefert. Während Ausgangsperren, Wohnungsenteignungen und Verarmung zum Alltag gehören, riskiert Jeremiah mit dem Sammeln von Elektroschrott und Altmetall in den Außenbezirken regelmäßig sein Leben. Obwohl er sich im Besitz von diesen begehrten Tauschobjekten befindet, sehnt er sich danach, aus der Ummauerten Stadt zu entkommen, in der Nahrungs- und Sauerstoffversorgung kontrolliert und Menschen wie Vieh gehalten werden. Zusammen mit Bezirkskommunikator Goran begehrt Jeremiah gegen das System auf. Doch was wird ihn der Wunsch nach Freiheit kosten?


Rezension

Jeremiah ist ein Sammler, der sein Leben riskiert, um wertvolle Dinge wie Stifte, Papier oder Ersatzteile für Maschinen zu finden – außerhalb der Ummauerten Stadt. Dabei ist es den Bewohnern verboten, in den Ruinen herumzustreifen und Nützliches zu sammeln. Die Soldaten bestrafen jeden, den sie in der grauen Einöde erwischen, hart. Das bekommt Jeremiah am eigenen Leib zu spüren. Er verliert einen Freund in den Trümmern und dann muss er auch noch ohne Beute in seinen heruntergekommenen Wohnblock zurückkehren. Seine Nachbarn haben genauso wenig wie er, sie alle leben in zugeteilten Wohnungen mit mehreren Menschen zusammen. Andere haben nicht einmal eine Wohnung. Auch das Essen wird zugeteilt, jeder erhält seine Ration Algen und Fleisch. Selbst das Wasser für die Toilette wird rationiert. Wer etwas gegen die Regierung sagt, wird von den Soldaten abgeholt, überall lauern Spitzel. Jeremiah kann die Ungerechtigkeit und die Armut der Ummauerten Stadt nicht mehr ertragen. Seine Wut sucht ein Ventil und er trifft die bittere Entscheidung, einen Anschlag zu verüben …

„Die Ummauerte Stadt“ ist eine extrem düstere Dystopie mit einer Zweiklassengesellschaft, die nicht nur für Jeremiah unerträglich ist. Während die Menschen in der Ummauerten Stadt täglich ums Überleben kämpfen und in verwitterten Gebäuden leben müssen, mangelt es den Menschen im Geschlossenen Bezirk an nichts. Die Einblicke, die man in das Leben der Politiker, Wissenschaftler und Militärs erhält, machen einen sprachlos: Sie leben im Überfluss und rechtfertigen ihre Ungerechtigkeit gegenüber der Ummauerten Stadt damit, dass die meisten Menschen dort minderwertig seien. Tatsachen werden zurechtgebogen, sodass das Militär noch brutaler vorgehen kann. Die Antagonisten sind stark überzeichnet, sie sind so egoistisch und boshaft, dass man es kaum glauben kann. Für ihr eigenes Wohl sind sie bereit, Menschenleben zu opfern – und finden dafür auch noch fadenscheinige Begründungen, die ihnen ein aus ihrer Sicht reines Gewissen bescheren. Denn schließlich sind sie ja die guten, reinen Menschen und die Leute in der Ummauerten Stadt undankbare und degenerierte Kriminelle.

Vieles in diesem Roman erinnert an die Ideologie des Dritten Reiches. Hier erheben sich Menschen über andere und begründen das damit, dass sie mehr wert seien. Eine Art überlegene Rasse. Bei der Verachtung, die sie den Menschen der Ummauerten Stadt entgegenbringen, wundert man sich, warum sie die Bewohner nicht sich selbst überlassen. Aber offenbar braucht der Geschlossene Bezirk die Ummauerte Stadt noch. Warum das so ist, erfährt man relativ spät – und die Wahrheit ist grausamer, als man sie sich hätte vorstellen können. Menschlichkeit und Moral scheinen in diesem Roman nicht zu existieren, einzig Jeremiah und einige andere Bewohner der Ummauerten Stadt zeigen so etwas wie ein moralisches Empfinden. Allerdings werden sie so sehr in die Ecke gedrängt, dass sie selbst Unmenschliches tun müssen. Die schreiende Ungerechtigkeit zwingt sie dazu. Und als Leser will man aus Wut das Buch an die Wand schmeißen, aber letztlich liest man gebannt und angewidert weiter.

„Manchmal glaube ich, es wäre besser, man würde den ganzen Haufen [die Bewohner der Ummauerten Stadt] sich selbst überlassen. Sollen sie doch in ihrer Scheiße ersticken.“ (Seite 340)

Die Brutalität, mit der Menschen gegen andere Menschen vorgehen, ist schockierend. Nicht nur Politiker, Wissenschaftler und Militär erheben sich über die Ummauerte Stadt, auch alle, die ihr entkommen sind und nun für die Menschen im Geschlossenen Bezirk arbeiten, tun das. Einfache Soldaten, die einmal selbst Bürger der Stadt waren, treten und schlagen ihre einstigen Nachbarn, teilweise bis sie tot sind. Andere werden verschleppt und grausigen Experimenten unterzogen. Auch die Soldaten glauben, sie seien bessere Menschen und die Bewohner der Ummauerten Stadt nur Abschaum, der nicht arbeiten will. Dabei gibt es einfach keine Arbeit, wobei die Bewohner sich trotzdem darum bemühen, sich gegenseitig zu helfen und versuchen, die Gebäude so gut es geht in Stand zu halten. Es gibt Versammlungen und Abstimmungen und jeder Wohnblock erscheint wie eine kleine funktionierende Einheit, die sich ein wenig Menschlichkeit bewahrt hat.

So grausam sich die Soldaten (und andere Arbeiter) auch verhalten, Jan Reschke weckt auch für sie Verständnis: Aus Angst, selbst nichts mehr zu haben und ihre Familien Gefahren auszusetzen, folgen sie der Regierung und leben bewusst die Verachtung für die Bewohner der Ummauerten Stadt – sie müssen sie als minderwertig betrachten, weil sie sonst ihre eigenen Grausamkeiten gar nicht ertragen würden. Viele werden zu den Gräueltaten gezwungen, sie werden erpresst und bedroht. Letztlich resultiert die Fiktion des Romans in einem Dilemma: Menschlich und ehrlich handeln und misshandelt und getötet werden? Oder über Leichen gehen und sich und seine Liebsten beschützen? Wie moralisch würde man selbst handeln, wenn man einem Leben im Dreck mit wenig Nahrung und in ständiger Angst vor Übergriffen entkommen könnte? Und wieder entdeckt man Parallelen zum Dritten Reich und denkt unweigerlich an Konzentrationslager wie Auschwitz-Birkenau.

„Die Ummauerte Stadt“ bietet keine Helden und kaum heldenhafte Taten. Es gibt nur eine kleine Gruppe Menschen, die versucht, das Leben in der Ummauerten Stadt zu verbessern. Erst versuchen sie es mit Gewalt, scheitern aber. Dann wollen sie selbst Lebensmittel anbauen. Algen. Und hier zeigt sich am deutlichsten, dass „Die ummauerte Stadt“ eine Fiktion ist, ein Konstrukt. Denn man fragt sich, woher der Geschlossene Bezirk Obst und andere Nahrungsmittel bekommt, wenn im Werk (dem einzigen Nahrungsproduzenten) nur Algen und Fleisch hergestellt werden. Und die Art von Fleisch, die die Menschen zu sich nehmen, würde sich eigentlich schädigend auf die Gesundheit auswirken. Auch erscheint das Weltbild unvollständig, über die Ereignisse, die zu dieser tristen Zukunft führen, wird leider nichts erwähnt. Die Fiktion ist grausam und hart und funktioniert innerhalb dieses Romans (auch wenn man sich über das Obst wundert), hätte für eine noch krassere Wirkung aber realistischer ausfallen müssen. Jan Reschke bietet letztlich auch keine Lösung, das Ende bleibt offen und düster, mit einem kleinen Hoffnungsschimmer in einem Meer aus Schmerz und Wahnsinn.


Fazit

„Die Ummauerte Stadt“ ist eine zutiefst grausame Dystopie, die erschreckende Parallelen zum Dritten Reich aufweist. Was Menschen hier anderen Menschen antun, ist kaum zu fassen. Das Leseerlebnis schwankt zwischen Faszination und Würgereiz. Die Protagonisten scheinen einen aussichtslosen Kampf zu führen, doch sie stehen für etwas ein, sie zeigen Menschlichkeit – etwas, das die meisten Menschen in diesem Buch eingebüßt haben. Ein unheimlich atmosphärischer und nachdenklich stimmender Roman, dessen Inhalt nur schwer verdaulich ist.  


Pro & Contra

+ Protagonisten, die sich ihre Menschlichkeit weitgehend bewahren
+ extrem düstere, deprimierende Atmosphäre
+ Verständnis für verschiedene Personengruppen
+ Parallelen zu den Schrecken des Dritten Reichs
+ emotionalisiert den Leser stark
+ schnörkellose, harte Erzählweise
+ faszinierende und ekelerregend

- Antagonisten stark überzeichnet
- offenes Ende ohne richtige Lösung

Wertung: sterne4

Handlung: 3,5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 3,5/5