Die Unvollendete (Kate Atkinson)

atkinson-unvollendete
 
Droemer, 2.9.2013 (Gebunden), 14.1.2015 (Taschenbuch)
Originaltitel: Life After Life (2013)
Aus dem Englischen von Anette Grube
Gebunden, 588 Seiten
€ 19,99 [D] | € 20,60 [A] | CHF 30,50
ISBN: 978-3-426-19981-7
Taschenbuch, 588 Seiten
€ 9,99 [D] | € 10,30 [A] | CHF 15,90
ISBN: 978-3-426-30431-0
 
Genre: Belletristik, Fantasy
Rezension
 
Die erste Auffälligkeit während der Lektüre von Die Unvollendete: es gibt einen Anfang, eine Mitte und ein Ende der Erzählung, dazwischen weitere Enden, Mitten und Anfänge, und es gibt zwischendrin immer wieder mal irritierende Lesemomente. Im Verlauf dieser Konstruktion, Rekonstruktion und Neukonstruktion von Handlungssegmenten hat Atkinson eine funktionierende und nachvollziehbare Welt erschaffen. Dadurch ändert sich jedoch nichts an der Schwierigkeit einer linearen Inhaltsangabe. Die könnte wie folgt aussehen:
 
Ursula ist das dritte Kind von Sylvie und Hugh Todd, wächst in einem Landhaus in der britischen gehobenen Mittelschicht auf, wenn sie denn aufwächst. Sie erlebt déjà vus, zur Irritation ihrer Mutter, ist ansonsten aber ein mustergültiges Töchterchen. Ihr folgen in der Geburtslinie Teddy und, nach Hughs Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg, Jimmy. Tante Izzie hat einen schlechten Ruf und spielt mit ihrer modern anmutenden Neigung zur Selbsterfindung eine wichtige Rolle in Ursulas Leben, ebenso wie Köchin Mrs. Glover, Hausmädchen Bridget aus Irland und Hund Lucky. Als die Spanische Grippe ausbricht, sterben Teddy und Bridget, weshalb Ursula in einem neuen Leben eine Rettungsaktion unternimmt. Ursula arbeitet für das Kriegsministerium und hat eine Affäre mit einem früheren Marineoffizier. Ursula erlebt wiederholt ein Ereignis, das traumatisierend wirkt, einen Bombeneinschlag in der Argyll Road während eines Angriffs der Luftwaffe. Dieses Ereignis lässt für sie nur den einen Schluss zu – dass der Krieg niemals stattfinden darf.
 
Kate Atkinson, die sich in England einen Ruf erworben hat als literarische Krimiautorin, darin Susan Hill vergleichbar, legt mit Die Unvollendete ihren achten Roman vor, in dem sie einmal mehr mit der Form experimentiert. Die Unvollendete beginnt mit dem Kapitel "Seid tapfer", datiert auf den November 1930. Es folgt zweimal das Kapitel "Schnee" (11.2.1910), welches, mit verändertem oder anderem Inhalt, noch weitere neun Male über die insgesamt 28 Kapitel mit 56 Abschnitten verteilt zu finden ist. Die früheste Zeitangabe im Buch ist der 11.2.1910 und die späteste der Juni 1967. Am häufigsten ist das Kapitel "Schnee" vertreten (elfmal), gefolgt von "Waffenstillstand" (sechsmal). Die meisten Kapitel gibt es einmal, nur eins, ein übergreifende Verbindungen herstellendes, enthält keine Datumsangabe. Die wiederkehrenden Daten gehen entweder einher mit einem Neustart, oder sie führen zu einer Fragmentierung des zusammenhängenden Ereignisses, wie beim Besuch von Doktor Fellowes. Eine zentrale Tat wird, eine Rahmung erzeugend, zweimal begangen.
 
Der Einstieg ist etwas plump, nicht nur das gewählte Motiv: Im November 1930 erschießt Ursula den Führer Adolf Hitler. Die sich dahinter bemerkbar machende Idee kennen wir bereits, aus Stephen Kings Romanen Dead Zone und Der Anschlag, aus Audrey Niffeneggers Die Frau des Zeitreisenden, aus dem Hollywoodfilm Butterfly Effect. Das Ende ist erst der Anfang und wer weiß woher sonst noch. Von Ursulas Attentat springt die Handlung im nächsten Abschnitt zu einem Tag im Februar 1910, an dem ein Kind zur Welt kommt, während der Arzt Dr. Fellowes noch unterwegs ist, es schneit erheblich. Das Neugeborene stirbt gleich nach der Geburt. 
 
Aber kein Problem. Im nächsten Kapitel schneit es erst später, der Arzt leitet die Geburt ein, ein Mädchen kommt zur Welt und lebt. Dieses Baby heißt Ursula Todd und ist uns bereits bekannt als Hitler-Attentäterin. Ursula lernt die junge Eva Braun kennen, arbeitet während des Zweiten Weltkriegs in London in einem Bergungstrupp und ist in einem anderen Entwurf Mitglied des militärischen Geheimdienstes. Während auf diesen Zeitlinien Orte und Ereignisse variieren, bleiben Ursula und ihre Familienmitglieder immer die gleichen Personen. So ist einer ihrer Brüder in jeder Handlungsvariante ein Ekel.
 
Atkinson springt exzessiv durch die Zeit. Ursula hat Auseinandersetzungen über Reinkarnation und Zeit mit ihrem Therapeuten Dr. Kellet, der ihr zu erklären versucht, dass die Zeit kreisförmig verläuft. Ursula entgegnet, tatsächlich sei die Zeit ein Palimpsest, würde ständig überschrieben unter Auslöschung des Vorhergehenden. Bei den vielen Zeitsprüngen kann dies auf erhebliche Überschreibungsaktivitäten führen, die irgendwann den Text unleserlich werden lassen, so dass er gegenüber einem kreisförmigen Konstrukt nachteilhaft würde. Aber auch die kreisförmige Bewegung dürfte wohl eher auf eine Spiralform führen, damit nicht mit jedem neuen Durchlaufen des Kreises entweder das vorher Geschehene ausgelöscht oder wie bei einem Palimpsest überschrieben werden muss, um noch nachvollziehbar zu bleiben. Alternativ denkbar wäre ein wachsender Mix von Ereignissen, der mit jedem Kreislauf größer und unübersichtlicher würde.
 
Eine Frage, die Atkinsons Roman aufwirft ist die von ihr selbst formulierte, ob ein Mensch alles besser, irgendwann sogar alles richtig machen würde, hätte er durch hinreichend häufige Wiedergeburt die Gelegenheit dazu. Aber man kann natürlich auch fragen, wie frustrierend es sein muss, wenn keine biografische Linie zuende gelebt werden darf, wenn das Leben ständig und teils unerwartet durch einen Tod abgebrochen, oder, je nach Sichtweise, unterbrochen wird, um anschließend unter leicht veränderten Bedingungen neu geführt oder fortgesetzt zu werden. Jedenfalls muss schon eine ausgeprägte Sterbefreude dazugehören, eine solche Existenz zu führen, sogar, wenn man weiß, dass man am nächsten Morgen wieder in seinem Bett aufwacht. Ursula stirbt bei der Geburt, fällt vom Dach, ertrinkt, begeht Selbstmord, kommt bei einem Luftangriff in London ums Leben und in den Ruinen Berlins. Auf vielfältige Weise scheidet sie aus dem Leben und kommt wieder zurück, um die Erzählung voranzubringen.
 
Besonders gelungen ist das Einflechten der Hintergrundgeschichte in diese wechselnden Erzählungen, eine Geschichte, von der jeweils nur das erzählt wird, was für einen Erzählstrang relevant ist, um diesen zu verstehen, und am Ende ergibt sich auf wenigstens dieser Ebene ein zusammenhängend wirkendes erzählerisches Gebilde. Dieses wird auch angereichert mit vielen kleinen Alltagsszenen, in denen wir erfahren, was zu einer bestimmten Zeit gegessen wurde, was und wie Kinder spielten, oder wie der Garten wann aussah.
 
Auf einer anderen Ebene kann der Roman gelesen werden als ein Buch über das Schreiben. Atkinson hat einen Einfall, entwickelt diesen, gelangt an eine Gabelung, wo sie eine Entscheidung über den Fortgang der Handlung treffen muss. Ideen werden ausgeführt, wieder verworfen, durch neue ersetzt, wobei Elemente der vorhergehenden Einfälle verwendet werden oder auch nicht. Der Titel Die Unvollendete bezieht sich dann nicht mehr auf die Hauptfigur, sondern auf die Komposition des Romans, in der die Probleme und Entscheidungen des kreativen Prozesses sichtbar werden, nicht aber eine Auflösung zugunsten traditionellen Erzählens erfahren.
Fazit
 
Kate Atkinson erzählt in Die Unvollendete Ursula Todds Lebensgeschichte, in der Unterbrechungen der Lebenslinie und Wiedergeburt einhergehen mit dem Versuch, Fehler zu beseitigen.
Pro und Kontra
 
+ probiert eine reizvolle Form von Serialität aus
+ gibt Aufschluss darüber, ab welcher Fragmentierungsintensität eine Geschichte auseinanderzufallen droht
 
o im, teils gehobenen, Plauderton erzählt
 
- mit vielen Details gestreckt, die für die Geschichte eher unwichtig sind
 
Wertung:sterne4
 
Inhalt: 4/5
Charaktere: 3/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5