Der lange Atem der Vergangenheit (Val McDermid)

mcdermid atem

Droemer Verlag 2015
Originaltitel: The Skeleton Road (2014)
Übersetzung von Doris Styron
Gebunden, 442 Seiten
€ 19,99 [D] | € 20,60 [A] | 28,90 CHF
ISBN 978-3-426-28134-5

Genre: Kriminalroman


Inhalt

In einem schwer zugänglichen Dachtürmchen der seit zwanzig Jahren leer stehenden John Drummond School in Edinburgh findet ein Mitarbeiter eines Abrissunternehmens ein menschliches Skelett. Der Schädel weist ein Einschussloch auf.
DCI Karen Pirie von der HCU (Historic Cases Unit), der Abteilung für Altfälle, nimmt die Ermittlungen auf. Die forensische Anthropologin River Wilde stellt anhand der Überreste fest, dass der Tote seit ungefähr fünf bis zehn Jahren auf dem Dachboden liegt, es sich um einen osteuropäischen Mann von Mitte bis Ende vierzig handelt. Karen vermutet, dass der Mann ein Kletterer war, denn das Internat ist bei Builderern sehr beliebt.

Bei dem Skelett wird kein Identitätshinweis gefunden, nur eine Hotelschlüsselkarte, auf der sich ein Teilabdruck einer Bankkundenkarte befindet. Die Kontodaten führen zu der Geologie-Professorin Maggie Blake von der Universität Oxford. Deren Mann, General Dimitar „Mitja“ Petrovic, verschwand Anfang September 2007 ohne Abschied. Maggie nimmt an, dass er in seine Heimat Kroatien zurückgekehrt ist, vielleicht zu Frau und Kindern. Maggie lernte ihn als junge Dozentin in Dubrovnik zu Beginn der Balkankriege 1991 kennen. Er war zuerst Oberst in der kroatischen Armee, ein Spezialist im Geheimdienst, später Beobachter der NATO und der UN.

Tessa Minogue, Maggies beste Freundin und Anwältin für Menschenrechte, glaubt, dass Mitja für eine Reihe von ungeklärten Morden an mutmaßlichen Kriegsverbrechern vom Balkan verantwortlich ist. Die Mordserie begann kurz nach seinem Verschwinden, er hatte Zugangsmöglichkeiten zu den Listen mit den Namen der Männer und deren Aufenthaltsort. Sie werden vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien geführt, der zuständig ist für Kriegsverbrechen während der Balkankriege. Karens Weg kreuzt sich mit dem der beiden Anwälte Alan Macanespie und Jerry Proctor, die für den Gerichtshof arbeiten und den Rächer ermitteln sowie die Selbstjustiz-Serie stoppen sollen, bevor ihre Abteilung zum Jahresende geschlossen wird.


Rezension

Die Romanhandlung spielt in zwei Sphären, der privaten und der politischen, die sich beide überlagern. Während McDermid die Geschichte einer Liebesbeziehung und eines Mordes erzählt, entfaltet sie die Historie des Balkans. Es gibt drei Erzählstränge. Im Zentrum stehen dabei die beiden weiblichen Hauptfiguren, Detective Chief Inspector Karen Pirie und die Geologie-Professorin Maggie Blake. Neben ihrer Arbeit erfährt der Leser einiges über ihr Privatleben. Beiden ist im Übrigen gemein, dass sie Schottinnen sind und aus der working class stammen, wie die Autorin übrigens auch. Der dritte Strang konzentriert sich auf die Anwälte Macanespie und Proctor, die nach dem Rächer suchen, weil dies ihre letzte Chance ist, von ihrem neuen Chef nach Schließung der Abteilung nicht geschasst zu werden. Sie sind also zum Erfolg verdammt, der Druck treibt sie tatsächlich zu ungeahnten Leistungen an. Darin unterscheiden sie sich von Karen und Maggie, die beide für ihre Hartnäckigkeit bekannt sind, die man auch braucht, wenn man sich hocharbeiten muss. Die anfangs parallel laufenden Geschichten werden im Verlauf der Handlung virtuos miteinander verknüpft. Die Wege der Figuren kreuzen sich.

Mit Karen hat McDermid eine interessante Frauenfigur geschaffen, die als wenig attraktiv beschrieben ist, mit zerknitterter Kleidung und unmöglicher Frisur. Sie ist nicht zimperlich, spielt die Machtspiele der Männer genauso gut oder sogar noch besser als diese. Immer wieder kommt es zu Kollisionen der Geschlechter. Bei allem ist sie sehr aufmerksam und sensibel, gibt sich selbstsicherer als sie manchmal ist, macht Fehler, die sie aber auch eingesteht. Sie hat immer noch das Gefühl, als Hochstaplerin aufzufliegen, weil sie nicht mehr in der Arbeitersiedlung wohnt, sondern bei ihrem Freund in einer bevorzugten Wohngegend.

Die Kriminalgeschichte wird immer wieder unterbrochen mit Passagen aus Maggies Manuskript, das sie schreibt, um ihre Geschichte zu überdenken und vielleicht in eine neue Perspektive zu rücken. Sie berichtet über ihre Zeit auf dem Balkan, ihre Arbeit als Dozentin in Dubrovnik, die Belagerung der Stadt durch die Serben, das Herausschmuggeln von Informationen an die Welt draußen, ihre Arbeit für den Wiederaufbau der zerstörten Stadt. Dabei erwähnt sie Dr. Kathy Wilkes, die ebenfalls in Dubrovnik geblieben ist. Kathy Wilkes war eine reale Person, Fellow für Philosophie am St. Hilda’s College in Oxford, beteiligt am Wiederaufbau des Bildungssystems ehemaliger kommunistischer Länder nach 1990. McDermid beruft sich bei ihrer Beschreibung der Besatzung und der Stadt auf Wilkes’ Aufzeichnungen und persönliche Schilderungen.

McDermid hat nach dem Studium lange als Journalistin gearbeitet, das merkt man ihren Büchern an. Sie sind gut recherchiert, realistisch, sensibel, aber niemals sentimental. Vor allem hat sie den Mut zur eigenen Meinung, auch wenn die nicht mit der herrschenden übereinstimmt. Sie distanziert sich von der simplen Gut-Böse-Logik, nicht nur hinsichtlich der Kroaten und Serben, sondern auch, aktuell, im Ukraine-Konflikt, weil es der tatsächlichen Situation widerspricht. Es steht ein „Bedürfnis“ dahinter, das sie nicht näher definiert, welches aber deutlich erkennbar ist: das Bestreben der EU nach einer Osterweiterung aus geopolitischen und wirtschaftlichen Gründen. Die traurige Gesetzmäßigkeit von Gewalt und Gegengewalt, wie sie McDermid schildert, lässt nicht die Frage aufkommen, wie diese Grausamkeiten in den 1990ern in Europa geschehen konnten, sondern warum das nicht öfter geschieht.


Fazit

Val McDermid hat mit Der lange Atem der Vergangenheit einen spannenden Kriminalroman geschrieben, der zugleich ein schwieriges politisches Thema behandelt, differenziert und mit Sorgfalt recherchiert.



Pro und Kontra

+ vielschichtiger Roman über die Macht der Verhältnisse, Schuld und Unschuld, Idealismus und Selbstgerechtigkeit
+ sorgfältige Recherche zu einem schwierigen Thema: die Jugoslawienkriege, ihre Nachwirkungen bis heute, Geopolitik
+ spannend erzählt, intelligent, ernsthaft und düster
+ psychologisch glaubwürdige Figuren
+ sympathische Ermittlerin mit typisch schottischem schwarzem Humor

Wertung:sterne5

Handlung 5/5
Charaktere 5/5
Lesespaß 5/5
Preis/Leistung 4/5


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