Das gläserne Meer (Josh Weil)

Dumont Verlag (August 2015
gebunden mit Schutzumschlag und Leseband
672 Seiten, EUR 24,99
ISBN: 978-3-8321-9797-1

Genre: Belletristik


Inhalt

Die Zwillinge Jarik und Dima sind von Geburt an unzertrennlich. Nach dem Tod des Vaters wachsen sie auf dem Bauernhof ihres Onkels auf, die Tage verbringen sie in den Kornfeldern und die Nächte im Bann der mythischen Geschichten aus dem russischen Sagenschatz. Jahre später arbeiten die Brüder Seite an Seite in der Oranzeria, dem gigantischen Gewächshaus, das sich hektarweit in alle Richtungen erstreckt.


Rezension

Schon vor der ersten Seite spricht vieles dafür, dass man es mit „Das Gläserne Meer“ mit einem außergewöhnlichen Buch zu tun hat. Das außergewöhnlich gelungene Cover etwa, oder die Tatsache, dass es sich offenbar mit um eine an russische Fabeln erinnernde Geschichte handelt, die aus der Feder eines Amerikaners stammt. Und als wäre das noch nicht genug, gibt es auch noch Science-Fiction-Elemente, die überraschenderweise nicht nur in dieses eher mythische Setting hineinpassen, sondern dieses vielmehr auch noch perfekt ergänzen: Mit Hilfe von großen Spiegeln im Weltraum ist es den Russen – zumindest für einige ausgewählte Städte – gelungen, die Nacht hinter sich zu lassen. Helligkeit den ganzen Tag über, nur unterbrochen von etwas Dämmerung: Der wirtschaftliche Aufstieg für die kleine Stadt, in der auch die zwei Protagonisten leben, scheint geradezu unausweichlich.
Und genau an diesem Punkt setzt Weil mit seinem interessanten Konzept an: Profit, Wachstum, ja geradezu kapitalistische Zustände – und das in der russischen Provinz? Das scheint fast noch phantastischer als Spiegel im Weltraum. Mit sichtlichem Genuss lässt Weil zwei Welten aufeinanderprallen, die unterschiedlicher nicht sein könnten – und kreiert so seine ganz eigene Fabel, die der Geschichte eine ganz spezielle Atmosphäre einhaucht.

Vor dieser Kulisse entfaltet sich nun die Geschichte zweier Brüder, die seit ihrer Kindheit unzertrennlich sind, sich jedoch im Laufe der Geschichte immer weiter auseinander entwickeln, bis schließlich jeder der beiden eines der Extreme des neuen Russlands verkörpert. Diese Geschichte einer gescheiterten Geschwisterbeziehung bildet das Grundgerüst von Weils Geschichte:
Jarik und Dima sind seit ihrer Kindheit unzertrennlich. Als sie jedoch älter werden – mittlerweile dominiert die „Oranzeria“, ein gigantisches Gewächshaus, in dem dank der Weltraumspiegel Tag und Nacht gearbeitet wird, die einst kleine, von Fabeln und kindlichen Fantasien geprägte Stadt – beginnen sie, sich immer stärker auseinander zu entwickeln. Gekonnt fängt Weil an dieser Stelle den schleichenden Prozess der Entfremdung ein; ein anfangs fast unmerklicher Riss wird im Laufe der Geschichte zu einer unüberwindbaren Kluft, in die früher oder später einer der Charaktere stürzen muss. Denn während Jarik in der Oranzeria durch Fleiß und abgebrühte Cleverness schnell aufsteigt, bleibt Dima ein einfacher Arbeiter, der behäbig und antriebslos durch seinen stumpfsinnigen Alltag treibt. Die oberflächlich betrachtet eher eindimensionale Deutungsweise der beiden Figuren ­– Kapitalismus vs. Kommunismus – entfaltet ihre wahre Bedeutung erst in deren Gefühlswelten, die jede für sich ein nachvollziehbares Bild dieser so gegensätzlichen Lebensmodelle liefert. Neben diesem Charakterdrama bietet Weil überdies einige spannenden und interessante Ideen und Ansätze zu den verschiedensten Themen – mit nicht seltenen Ausflügen ins Skurrile, sodass eine beinahe tragikomische Grundstimmung entsteht. Die ganz eigene und sorgfältig orchestrierte Atmosphäre ist es dann auch, die über die eine oder andere handlungstechnische Schwäche hinwegträgt.


Fazit

Mit „Das gläserne Meer“ erzählt Weil eine Geschichte, die sich abhebt. Viele schöne Ideen in Kombination mit skurrilen Situationen und Charakteren können gut unterhalten.


Pro & Kontra

+ außergewöhnliche und eigentständige Geschichte
+ schönes und durchdachtes Setting mit besonderem Flair
 
o skurrile Situationen und Charaktere
 

Wertung:

Handlung: 4/5
Charakterre: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5