Pariser Symphonie (Irène Némirovsky)

nemirovsky pariser symphonie

Manesse, 25.4.2016
Übersetzt aus dem Französischen und Anmerkungen von Susanne Röckel
Nachwort von Sandra Kegel
Gebunden, 226 Seiten
€ 24,95 [D] | € 25,70 [A] | CHF 32,50
ISBN 978-3-7175-2412-0

Genre: Belletristik


Inhalt

Die Geister (Les revenants) | Die Diebin (La voleuse) | Magie (Magie) | Umständehalber (En raison des circonstances) | Pariser Symphonie (La Symphonie de Paris) | Die Jungfern (Les vierges) | Die Angst (La peur) | Der Freund und die Frau (L’ami et la femme) | Die Unbekannte (L’inconnue) | Echo (Écho) | Ein Film (Film parlé) | Anmerkungen | Nachwort | Editorische Notiz


Rezension

Irène Némirovskys Pariser Symphonie enthält elf Erzählungen, die zwischen 1931 und 1942 beziehungsweise 2009 und 2012 im Original erstveröffentlicht wurden. Die Geschichten mit einem Umfang von drei bis 63 Seiten bieten Einblicke in das Leben bürgerlicher Franzosen in der Zeit seit dem Ersten Weltkrieg. Némirovsky erzählt von Frauen verschiedener Generationen, ihren Erwartungen an das Leben, ihren Hoffnungen, die sie an Beziehungen mit Männern knüpfen, über die Selbstwahrnehmung des Individuums, Paarbeziehungen, das Familienleben.

Wir lernen Menschen kennen, deren Selbstbild dramatisch abweicht von den Vorstellungen, die sich Angehörige oder Freunde von ihnen machen. Eine Liebe vergeht, nachdem die Frau ein Kind bekommen hat, äußere wie innere Veränderungen und die Abnahme von Gemeinsamkeiten führen zur Trennung (Die Jungfern), drei Frauen sprechen über Lebensentwürfe mit und ohne Mann, mit und ohne Kind, die verlassene Mutter vertritt die Überzeugung, Liebe entstehe aus dem Schmerz. Ein wiederkehrendes Motiv: das Elend, die Tränen (Die Jungfern, Ein Film).

Es sind Geschichten, die sich lesen wie Momentaufnahmen, manche von ihnen verdichtet zu Zustandsbeschreibungen, melancholischen Bildern aus einer vergangenen Zeit, schon in den Jahren ihrer Entstehung. Schicksale von Menschen, die sich im Leben einzurichten oder zurechtzufinden versuchen, nachdem sie eine persönliche Katastrophe, einen Weltkrieg, einen wirtschaftlichen Zusammenbruch durchgestanden haben. Die Erinnerungen mancher Figuren scheinen von Sehnsucht durchzogen, nach einer Vergangenheit, in der ein furchtbares Familiengeheimnis geschaffen wurde und in der Schuld das weitere Leben formte (Diebin). Diese Vergangenheit bestimmt über erinnerte Geschehnisse, über Dinge aus dieser Zeit, das Leben der Menschen in der Gegenwart.

Ein Thema Némirovskys ist die Kreisförmigkeit von Geschichte, die sich wiederholt, weil der Mensch nicht anders kann oder will. In „Diebin“ wurde in der Vergangenheit ein Dienstmädchen wegen eines angeblichen Diebstahls entlassen und beging Suizid. In der Gegenwart ist ein tatsächlicher Diebstahl der Auslöser für die Offenlegung eines Geheimnisses, das durch Bigotterie, Schuld und Scham zur dramatischen Veränderung von Biographien und psychischen Dispositionen geführt hat.

Marie-Louise Seurats erster Ehemann René ist im Krieg gefallen (Umständehalber), ihr zweiter Ehemann Georges ist eifersüchtig auf den Vorgänger, mit einem Toten kann man nicht konkurrieren. Die Tochter aus erster Ehe heiratet Gilles, der im nächsten Krieg eingezogen wird – man ahnt, wie es weitergehen wird. Eine Erzählung über vergangene Jugend und nicht erlebtes Glück und die Hoffnung, wenigstens etwas möge sich verändern. In einer anderen Geschichte erinnert sich ein Autor an seine Kindheit, die auf unangenehme Weise in seinem Sohn nachhallt (Echo).

Das Schicksal, auch wenn es sich offenbart wie in „Magie“, einer Erzählung zur Zeit der Revolution 1918, trifft doch nicht so ein. Und wo man sein Wirken vermuten könnte, sind es Außenstehende, die das Leben eines Menschen auf schicksalhafte Weise verändern, Sert das der Frau seines verstorbenen Wegbegleiters Rémy (Der Freund und die Frau), eine Unbekannte, die einem selbstverliebten Autor mit – schließlich zielführenden - Briefen in kritischen Momenten beisteht (Die Unbekannte).

Irène Némirovsky wählt in ihre Erzählungen geschickte Einstiege, in denen sie oft auch in einem Satz den Kern der Geschichte freilegt. In Momenten sind die Texte kitschig, manche Inhalte wirken auf heutige Leser überkommen, nicht nur das Frauenbild und verschiedene Klischees, die von heutigen Klischees weit entfernt sind. In „Pariser Symphonie“ beschreibt sie das Bohèmeleben der Stadt am Beispiel des Paares Gilda und Mario, das Streben nach Erfolg und Anerkennung, die Zeit der Armut, des Ärgers, der Gerichtsvollzieher und des Ehebruchs, die Erkenntnis, man müsse sich Paris verdienen. Paris – die Stadt als Luder, um das man sich bemühen muss, die einen dennoch danach im Regen stehen lässt.

In zwei Erzählungen (Pariser Symphonie, Ein Film) arbeitet Némirovsky ausdrücklich filmisch, werden Aufzählungen wie Wahrnehmungen eines schweifenden Kamerablicks, sprachliche Entsprechungen von Schnitten („Etwas später.“) und Blenden (als Abblende: „Die Stimmen sind nicht mehr zu hören. Die Straße ist leer.“) eingesetzt. In „Ein Film“ gibt es eine Exposition, in der der Handlungsraum als emotionaler Raum etabliert wird und aussieht wie in einer Melange aus Michael Curtiz’ Film Casablanca (Rick’s Cafe) und französischen Filmen der 1930er Jahre, gerne mit Jean Gabin in der Hauptrolle. Protagonistin Anne setzt sich mit ihrer Mutter auseinander. Sie kann dieses Leben nicht mehr sehen, träumt den „Traum vom guten kleinen Leben“ und will nur Luc dienen.


Fazit

Irène Némirovskys erzählerische Welt ist in Pariser Symphonie bestimmt durch Einsamkeit und die Auswirkungen von Katastrophen und Erinnerungen auf die Gegenwart. Die Vorstellung vom Leben als Zumutung haben die Erzählungen gemeinsam, ebenso die Verwendung von Lebensfragmenten, die sich zur Essenz einer Biographie verdichten.


Pro und Kontra

+ Hauptfiguren mit Tiefendimension
+ existenzielle Themen
+ in Momenten tiefe Wahrheiten in schöner Prosa beschrieben
- in Momenten kitschig und banal

Wertung: sterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5


Rezension zu Das Mißverständnis