Sommergeister (Mary Rickert)

Piper (Mai 2016)
Originaltitel: „The Memory Garden“
Übersetzer: Birgit Reß-Bohusch
Klappenbroschur
352 Seiten, 16,99 EUR
ISBN: 978-3-492-70414-4

Genre: Belletristik/Mystery


Klappentext

Die 15-jährige Bay Singer weiß, was sie im Dorf sagen: ihre Mutter sei eine Hexe. Sie habe eine dunkle Vergangenheit. Furchtbares sei Jahrzehnte zuvor geschehen, das niemand erfahren dürfe. Bay will die Gerüchte nicht glauben, doch etwas in ihr weiß es besser. Und je weiter sie nachforscht, desto unglaublicher werden die Geschichten, auf die sie stößt…..


Rezension

Es ist jetzt fünfzehn Jahre her, dass die damals bereits sechzigjährige Nan Singer ein ausgesetztes Baby auf ihrer Schwelle gefunden und adoptiert hat. Bay hat fast nur glückliche Erinnerungen an ihre Kindheit in Nans altem Haus und verwunschenen Garten. Aber je älter sie wird, desto mehr leidet sie unter Nans exzentrischem Verhalten und den Gerüchten, die sich um sie ranken. Zur Außenseiterin gestempelt wünscht sie sich nichts anderes, als ein normales Leben zu führen. Deshalb reagiert sie alles andere als begeistert, als Nan ihr erzählt, dass sie anscheinend mit einer Glückshaube auf dem Kopf zur Welt gekommen ist und daher ein kleines, magisches Talent und eine Verbindung zur Geisterwelt hat.

Während Bay darum ringt, akzeptiert zu werden und sich über ihre Ziele im Leben klar zu werden, hat Nan andere Sorgen: Eine Schuld aus der Vergangenheit hört nicht auf, sie zu beschäftigen, und sie glaubt, vom Geist ihrer Freundin Eve verfolgt zu werden. Zusammen mit ihren Freundinnen Mavis und Ruthie wahrt sie das Geheimnis um die Umstände, unter denen Eve gestorben ist. Die Freundschaft der ist drei an ihren Schuldgefühlen und gegenseitigen Vorwürfen zerbrochen. Doch Nan hat auch noch ein anderes Geheimnis.

Entschlossen, endlich mit der Vergangenheit abzuschließen, läd sie Mavis und Ruthie nach Jahrzehnten der Trennung für ein Wochenende zu sich ein. Überraschend stößt Stella dazu, eine Großnichte Eves, die sich für deren Tod interessiert. Bay weiß nicht, was sie von den alten Freundinnen ihrer Mutter halten soll: der herrischen Mavis und Ruthie, die auf den ersten Blick einen schlichten Eindruck macht, aber in deren Vergangenheit es mehr als einen dunklen Punkt gibt. Hin und wieder sagt und tut Ruthie Dinge, die am Bild der naiven, liebenswerten Alten kratzen. Doch es gibt noch mehr verwirrende Ereignisse: Bay begegnet einem Jungen, der behauptet, ein Geist zu sein und erfährt von Stella und ihrer besten Freundin Thalia alte Gerüchte, die ihren Blick auf Nan vollkommen verändern.

An der Oberfläche passiert sehr wenig. Nan, Bay und ihre Besucher arbeiten im Garten, laden Bays Freundin zu sich ein, unterhalten sich, veranstalten ein Fest… Schließlich verliebt sich Bay sogar ein wenig in Howard, einen jungen Mann, der bei Nan Zuflucht vor den Erwartungen seiner Familie gesucht hat. Viele Szenen beschwören das Bild eines perfekten Sommers herauf – nur um dann jäh ins Bedrohliche zu kippen, wenn die Vergangenheit der drei alten Freundinnen zur Sprache kommt. Mit unzähligen, geschickt eingestreuten Andeutungen schafft es Mary Rickert, den Leser der Enthüllung der Wahrheit entgegenfiebern zu lassen. Aber es geht nicht nur um die Vergangenheit und deren unmittelbare und sehr konkrete Auswirkungen auf die Gegenwart, die insbesondere Nan fürchtet. Es ist auch ein Buch darüber, wie Nan, Mavis und Ruthie versuchen, sich mit ihren Erinnerungen, einander und dem Älterwerden zu versöhnen, und über Bay, die versucht, ihren Weg zu finden. Sie ist zwischen ihrer tiefen Zuneigung zu Nan und ihrem Wunsch nach Normalität hin und her gerissen. „Sommergeister“ ist in erster Linie ein Roman über Figuren und ihre Beziehungen, der sich viel Zeit nimmt, diese zu erkunden. Erst allmählich baut sich die Spannung auf.

Das Buch ist aus den Perspektiven Nans und Bays geschrieben. Alle Figuren sind plastisch und differenziert gezeichnet. Sie geben genug von sich preis, um zum Leben zu erwachen, aber haben gleichzeitig bis zum Ende ihre Geheimnisse und können den Leser überraschen. Obwohl es dezente, übernatürliche Elemente gibt, stehen diese sehr im Hintergrund und es bleibt der Interpretation des Lesers überlassen, wieviel von Nans Glauben an Hexerei berechtigt ist. Auf jeden Fall trägt er noch zur der geheimnisvollen Atmosphäre des Buches bei. An jedem Kapitelanfang wird eine Pflanze mit ihren Wirkstoffen und ihrer symbolischen Bedeutung vorgestellt, was ein Motiv aufgreift, das sich durch das ganze Buch zieht: Nans wild-romantischer Garten ist der wichtigste Schauplatz, immer wieder geht es um Kräuter und Blumen, und selbst Bay ist nach einer Pflanze – Lorbeer – benannt.


Fazit

Mary Rickert hat einen dichten, atmosphärischen Roman über drei Freundinnen geschrieben, die sich miteinander und ihrer Vergangenheit versöhnen müssen und glänzt mit eindringlichen Portraits ihrer Figuren. Trotz eines eher langsamen Beginns zieht „Sommergeister“ mit einer schönen Sprache und einem atmosphärischen Schauplatz den Leser schließlich vollkommen in seinen Bann.


Pro und Contra

+ ungewöhnliche, überzeugende Charaktere
+ komplexe Beziehungen der Figuren untereinander
+ schöne, eindringliche Sprache
+ Atmosphäre
+ Pflanzen-Motiv

o übernatürliches Element vorhanden, aber so unbedeutend, dass es auch hätte weggelassen werden können

Wertung:

Handlung: 4/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5