Mord auf Bestellung. Ein Agententhriller (Jack London; vervollständigt von Robert L. Fish)

london mord

Manesse 2016
Originaltitel: The Assassination Bureau Ltd. (1910/1963)
Übersetzung von Eike Schönfeld
Gebunden, 261 Seiten
€ 24,95 [D] | € 25,70 [A] | CHF 32,50
ISBN 978-3-8031-2619-1

Genre: Kriminalroman


Rezension

Wem der Mumm zum Morden fehlt, der wendet sich an die Attentatsagentur mit beschränkter Haftung von Ivan Dragomiloff in New York, vorausgesetzt der Tod der Zielperson ist gesellschaftlich gerechtfertigt und der Klient bringt das Honorar auf. Zehntausend Dollar für die Tötung eines Polizeichefs, fünfundsiebzigtausend bis hunderttausend für einen zweit- oder drittrangigen König, eine halbe Million für den König von England.

Die anarchistische Caroline-Warfield-Vereinigung will den Polizeichef McDuffy loswerden. Da ihr Sekretär Hausmann kein Blut sehen kann, wendet er sich an Dragomiloff. Hausmann versucht zu feilschen, doch Dragomiloff lässt nicht mit sich handeln. Die zehntausend Dollar sind bereits Sozialtarif, der Millionärstarif für McDuffy läge bei mindestens fünfzigtausend.

Bei Dragomiloff gibt es feste Sätze und feste Regeln. Der Auftrag erfolgt per Vorkasse mit Geld-zurück-Garantie bei Nichterfüllung nach einem Jahr. Ist der Auftrag angenommen, muss die Agentur ihn ausführen. Der Kunde kann den Auftrag allerdings auch nicht stornieren. Diskretion garantiert.

Dragomiloff, der als Sergius Constantine und Besitzer eines großen russischen Importhauses ein bürgerliches Leben in New York führt, hat eine perfekt funktionierende Organisation aufgebaut, die landesweit operiert mit Dependancen in Boston, Chicago, New Orleans, St. Louis, Denver und San Francisco. Seine Agenten sind Männer von höchstem ethischen Charakter, verbunden mit der erforderlichen physischen und nervlichen Robustheit, gerne Akademiker.

Binnen einer Woche ist McDuffy erledigt, wie von Hausmann gewünscht nach Anarchistenart: spektakulär und blutig. Da taucht der junge Sozialist und Millionärserbe Winter Hall in Dragomiloffs Büro auf. Der Name der Person, die sterben soll: Dragomiloff. Hall will die Agentur vernichten, die seinen Freund getötet hat und zugleich einen Mann loswerden, dessen Treiben er für zutiefst unmoralisch hält. Als er feststellt, dass Dragomiloff der Onkel seiner Geliebten Grunya ist, will er den Auftrag stornieren. Was folgt ist eine blutige Hetzjagd quer durch die USA bis nach Hawaii.

Erdacht hatte die Romanidee der Lohnschreiber und spätere Nobelpreisträger Sinclair Lewis. Jack London (1876-1916), durch Abenteuerromane wie „Der Seewolf“ und „Der Ruf der Wildnis“ weltberühmt, kaufte sie ihm 1910 für fünf Dollar ab, beendete das Manuskript jedoch nicht. Es tauchte mit einem Konzept für die weitere Entwicklung und der Skizze eines möglichen Endes aus der Feder von Londons Witwe Charmian im Nachlass des Autors wieder auf und wurde 1963 von Kriminalautor Robert L. Fish beendet. Fish hielt sich nicht an die Skizzen. Jedoch dürfte der Leser, soweit er nicht ausgesprochener London-Experte ist, den Wechsel kaum bemerken.

Das Buch umfasst 261 Seiten, der Roman selbst 217 Seiten; nach ungefähr zwei Dritteln bricht Jack Londons Anteil ab (S. 153). Das restliche Drittel stammt von Fish. Es folgen ein Abschnitt von vier Seiten mit Jack Londons Aufzeichnungen für die Fertigstellung des Buches, Charmian Londons Skizze mit dem Ende von anderthalb Seiten, Anmerkungen und ein Nachwort von Freddy Langer.

Die Handlung spielt im Jahr 1911. Hinter der Fassade des russischen Importhauses in New York verbirgt sich eine Attentatsagentur, hinter dem faden Äußeren von Ivan Dragomiloff ein Mann, der den Typus des Übermenschen verkörpert. Dragomiloff – der Name des Agenturchefs ist ebenso unecht wie der des Geschäftsmanns Sergius Constantine – ist ein fanatischer Ethiker und Moralist, ein Weltverbesserer, eine Monstrosität, wie er sich selbst nennt, ein Mann mit dem absoluten Willen zur Macht und zum Individualismus. Darin erinnert er an Wolf Larsen, den Seewolf, dem er an Körperkraft sogar noch überlegen ist. Konnte Larsen immerhin eine rohe Kartoffel zerquetschen, kann Dragomiloff mit den Fingern ein Kartenspiel zerreißen und eine Silbermünze biegen.

Dragomiloff ist Russe, will aber nicht dem Klischee entsprechen und nur denken und reden. Er will Taten vollbringen, um den Idealzustand der Anarchie herbeizuführen. Er glaubt nicht an die Selbstheilungskräfte der Gesellschaft, anders als die 22-jährige robuste russische Blondine Grunya. Die philosophische Anarchistin glaubt an einen evolutorischen Prozess, der über den Sozialismus zur idealen Freiheit des anarchischen Zustands führt.

Dragomiloff ist kein Fanatiker, sondern einer kritischen Diskussion zugänglich, weshalb er sich offen ein intellektuelles Sparring mit seinem Gegner Winter Hall, dem 32-jährigen Millionärssozialisten, Denker und Tatmenschen, liefert. Hall sieht sich nach einem überraschenden Positionswechsel mit Dragomiloffs Problemen konfrontiert: Ist das Töten eines Menschen legitim? Unter welcher Prämisse? Welche Opfer darf oder muss ein Mensch im Namen der höheren Moral auf sich nehmen?

Der Streit zwischen Dragomiloff, seinen Agenten, Hall und Grunya darüber, ob der Auftrag gegen ihn auszuführen oder zu stornieren sei, schraubt sich in derart abstruse Höhen, dass Grunya zornig bemerkt, sie wolle ein Buch schreiben mit dem Titel „Die Logik des Wahnsinns oder Warum Denker verrückt werden“. Sie alle sind Intellektuelle mit Kultur, was ihnen auch einen kurzen Waffenstillstand ermöglicht, der wie anderes im Roman die Grenze zur Parodie überschreitet. Da sitzen intelligente, gebildete, eloquente Menschen friedlich und einträchtig im „Poodle Dog“ bei einem heiteren Abendessen und reden unverblümt darüber, wie sie einander umbringen wollen.

Jack London steht dem Typus des Übermenschen skeptisch gegenüber und führt aus, wohin mechanistisches Denken und starres Festhalten an Prinzipien führen. Da vermischen sich tiefgründige Diskussionen mit schwarzem Humor und harter Action. Die kriminellen Elemente werden lapidar und teils im Telegrammstil abgehandelt, sind knapper als die vermischten Meldungen in der Zeitung, was dem Geschehen Dynamik, Spannung und urbane Authentizität verleiht.


Fazit

Ansprechender und anspruchsvoller Genre-Klassiker, der Kriminalroman mit Reflexionsprosa mischt, die wiederum ein weites Feld thematisiert, wie politische Ökonomie, die Moral von Attentätern, Gesellschaftsformen, Folgen der Industrialisierung und Zukunftsperspektiven, ohne dabei in lästige Klischees oder professorales Gehabe zu verfallen.


Pro und Kontra

+ einfallsreich, innovativ und aktuell
+ interessante Debatte über Moral, Ethik und Werte
+ packende Dramatik, überraschende Wendungen und Action mit hohem body count und kreativen Morden
+ starke Kombination aus farcenhaftem und absurd gewalttätigem Geschehen vor philosophischem Hintergrund
+ dialogstark

- chiffrenartige Charaktere

Wertung: sterne4

Handlung: 5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 3/5