Herr K. und der Schnee (Miron Neghabian)



Dresdner Buchverlag GbR, Dresden 2009
180 Seiten, gebunden
Preis: 17,90 € (D)
ISBN 978-3-941757-05-9

Genre: Belletristik



Treibgut

Als ich in den Fernsehraum komme, ist mein Platz besetzt. Ein neues Gesicht, wie fast immer an einem Samstagabend.
„Und?“, fragt Marta. „Wie war dein Tag?“
„Schön“, sage ich, „sehr schön.“
„Mishu, das ist Ela.“
„Hallo!“, sage ich.
Die Neue antwortet überhaupt nicht. Blickt nicht mal auf. Sitzt nur zusammengekauert auf meinem Stuhl und glotzt auf die Fliesen vor ihren Füßen, Fingernägel kauend. Manche schämen sich eben, hier gelandet zu sein. Die kommen ja hierher, weil sie total vereinsamt sind. Wenn sie sich nicht mehr aus dem Haus trauen, spinnen sie sich nicht nur immer weiter ein in ihre eigene Welt – mit der Zeit vergessen sie auch, wie man sich zu verhalten hat unter Menschen. Sie werden einfach immer komischer. Ein Teufelskreis. Bis sie es irgendwann nicht mehr aushalten so allein in ihrer eigenen Welt. Dann schlucken sie eine Schachtel Tabletten oder suchen Hilfe.


- aus dem Beginn des Romans

Mishu ist ein Simulant, der sich regelmäßig in die Psychiatrie einweisen lässt, um nicht arbeiten zu müssen sondern stattdessen Zeit für das Schreiben an seinem Buch zu haben. Philosophierend analysiert er die Welt um sich herum, inszeniert penibel Krankheitsverlauf und vorläufige Besserung, belügt andere und sich selbst – Gezeiten der Ziellosigkeit.
Schiller ist ein Psychiater, der nach der Trennung von seiner Freundin auf der sinnlos gewordenen Burmareise in einem buddhistischen Kloster strandet. Ohne zu wissen, warum, beteiligt er sich an den Ritualen – Tage der Leere, durchbrochen von ewig präsenter Vergangenheit.
Zwei Menschen an entgegengesetzten Orten der Welt, von nahezu entgegengesetztem Charakter, deren Wege sich überschneiden ...

„... und alles Gewesene atmet noch einmal Gegenwart“

Aus dem Tritt sind sie beide geraten, Mishu und Schiller; der eine hat es sich halbwegs in diesem Zustand eingerichtet, um schließlich mit der Unmöglichkeit seines Lebensstils konfrontiert zu werden, der andere verliert nach und nach immer mehr den Boden unter den Füßen auf der Suche nach neuem Land. Eine Geschichte, die stark von den Protagonisten lebt – und Neghabian gelingt es, beide Hauptcharaktere überzeugend zu gestalten und zu entwickeln, mit all den Eigenheiten, die ihre Sichtweise der Welt prägen, all der zurückliegenden Geschehnisse, die bis in ihre Gegenwart atmen. Generell sind auch die Nebenfiguren gelungen, wenn auch speziell durch die subjektive Wahrnehmung des Ich-Erzählers verzerrt; besonders erwähnenswert ist hier ein Unikum namens Karl, ebenfalls Patient in der Psychiatrie, wissbegierig-flatterhaft, intellektuell-überdreht, voller Begeisterungsfähigkeit und mit einem halben Schrank voller Kateikarten mit Informationen, Fragen, Zitaten, die „wichtig“ sind.

Durch die Linse

Zwei Handlungsstränge, zwei Perspektiven: Die Qualität der Charakterdarstellung wird dabei zum Stolperstein. Während Schillers Erlebnisse nahezu durchgehend gut zu lesen sind, die Atmosphäre der internationalen Schauplätze gut vermittelt wird, stocken die Passagen des Ich-Erzählers Mishu immer wieder durch gar zu langatmig-ziellose Reflexionen, gar zu düster-abstrakte Überlegungen, die man ein wenig hätte raffen und kürzen können. Ebenfalls unnötig wirken kurze, kursive Abschnitte, die unbeholfen gereimt den Eindruck flacher Aphorismen hinterlassen und teils gut weggelassen oder reduziert werden dürften – auch die selbstironischen Versatzstücke lockern sie nicht wirklich auf.
Dennoch sind im Buch immer wieder Einsprengsel bissigen Humors zu finden, und es entlockt ein Schmunzeln, wenn Schiller andere Kursteilnehmer im Kloster mit „erleuchteten Kaninchen“ vergleicht.

Fazit

Ein Roman über die Suche nach Halt, nach sich selbst, der von den beiden gelungen ausgearbeiteten Protagonisten und ihrer Entwicklung lebt; allerdings wird diese Subjektivität phasenweise durch gar zu abstrahierte und ausführliche Gedankengänge mühsam zu lesen. Einige Passagen wirken unnötig oder hätten gut gekürzt werden können. Nebencharaktere und Schauplätze vermögen zu überzeugen und tragen ebenso wie eingestreute bissige Bemerkungen zur Atmosphäre des Buches bei, das etwas weitschweifig, aber rund endet.
Trotz Schwächen durchaus lesenswert.


Pro und Contra:

+ Überzeugend ausgearbeitete Hauptcharaktere
+ Generell gute Nebenfiguren, wenn auch durch den Ich-Erzähler subjektiv verzerrt
+ Einsprengsel von bissigem Humor
+ Lebendige Atmosphäre der internationalen Schauplätze

- Zweitweise zu langatmig-ziellose Reflexionen
- Eher unbeholfen gereimte Passagen, die den Charakter flacher Aphorismen haben
- Manchmal aufgrund der düsteren Stimmung des Ich-Erzählers mühsam zu lesen

Extras:

~ Kurze Autorenvita

Bewertung:


Handlung: 3/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 3,5/5
Preis/Leistung: 2/5