Die Inschrift (Andrea Camilleri)

camilleri inschrift

Kindler Verlag, 2018
Originaltitel: La Targa
Übersetzung von Annette Kopetzki
Gebunden, 74 Seiten
€ 14,95 [D] | € 15,40 [A] | CHF 19,90
ISBN 978-3-463-40676-3

Genre: Belletristik, Historik


Rezension

Am 11. Juni 1940, einen Tag nachdem Italien an die Seite seines Verbündeten Deutschland in den Krieg eingetreten ist, erscheint Michele Ragusano im Haus des Vereins „Faschismus und Familie“. Die Mitglieder schneiden ihn, denn Ragusano war wegen „fortgesetzter Diffamierung des ruhmreichen faschistischen Regimes“ für fünf Jahre in die Verbannung nach Lipari geschickt worden. In der Zwischenzeit hat ihn der Verein wegen Unwürdigkeit ausgeschlossen. Als der Vereinsvorsitzende Don Filippo Caruana ihn darüber aufklärt, will er gehen.

Doch dann schaltet sich Don Manueli Persico ein, 97-jähriger Faschist der ersten Stunde, Teilnehmer des Marsches auf Rom, Wegbegleiter Mussolinis. Ragusano müsse den Mitgliedsbeitrag, den seine Ehefrau in den letzten Jahren brav bezahlt habe, zurückerhalten. Die Mitglieder sammeln, doch Ragusano weist das Geld verächtlich zurück und bedankt sich bei Emanuele Persico und verspricht ihm, nicht zu verraten, was er in der Verbannung über ihn erfahren hat. Es kommt zum Streit. Als Ragusano den Namen Antonio Cannizzaro fallen lässt, erleidet Persico einen tödlichen Schlaganfall.

Ragusano wird „nur“ zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt. Persico wird feierlich, jedoch nicht ohne Komplikationen, zu Grabe getragen. Man will eine Straße nach ihm benennen und seiner Witwe eine Vorzugspension für „Gefallene im faschistischen Kampf“ gewähren.

Die Suche nach der passenden Inschrift (la targa) für das Straßenschild sorgt für weitere Komplikationen und durchzieht als roter Faden diese Geschichte. Anfangs ist die Angelegenheit klar und eindeutig, bis ein unangenehmes Detail über Persicos Vergangenheit ans Licht kommt. Persico hütete seit 1921 ein dunkles, mörderisches Geheimnis, das seine faschistische Identität in Frage stellt. Ein Historiker wird auf den Fall Persico angesetzt und macht eine überraschende Entdeckung, die zu einer neuerlichen Kehrtwende führt, bis ein weiteres Geheimnis ans Licht kommt. Die Faschisten von Vigata durchleben ein wahres Wechselbad aus Ehrfurcht und Abscheu.

Camilleri schildert die Biographie eines Chamäleons, eines Menschen, der sich mit Chuzpe und Geschick den politischen Machtverhältnissen anpasst und sich zum schillernden Helden stilisiert, um sich der Verantwortung für seine Verbrechen zu entziehen und ein hohes Ansehen und Wohlstand zu erschwindeln. Parallel zu Persicos weit zurückreichender Lebensgeschichte und der aktuellen Suche des Vereins nach einer Inschrift entwickelt sich eine Vierecksgeschichte mit drei Männern auf der Suche nach ihrer Männlichkeit und Persicos Witwe Anna, fünfundzwanzig Jahre und von „furchteinflößender Schönheit“.

Alle Männer von Vigata träumen von ihr, aber nur zwei dürfen sie besuchen. Da ist der zu allem fähige Faschist Cocò Giacalone und der Lateinlehrer Professor Ernesto Larussa, beides völlig gegensätzliche Typen, ein Brutalo und ein Intellektueller, die nichts voneinander wissen. Als Dottor Alletto, Arzt und ebenfalls Vereinsmitglied, erfährt, dass Anna sich zwei Liebhaber hält, rechnet auch er sich Chancen aus. Doch die Circe Anna hat eigene Pläne, und in denen ist er nicht vorgesehen. Als sie ihn abweist, beschließt er sich zu rächen.

Persico und seine Faschisten reden von Anstand und Ehre, von Loyalität und Großmütigkeit des Faschisten, Heldenverehrung und Märtyrertum, Suche nach der Wahrheit und all den anderen großen Idealen. Dabei geht es ihnen nur um Haben und Sein, Rache, Intrigen und Lügen. In ihrem Bestreben um die Aufrechterhaltung der Fassade geben sie sich selbst der Lächerlichkeit preis, und am größten ist der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei Persico, einem Meister der Inszenierung, der sich jeder Situation anpasst und nach Belieben seine Biographie manipuliert.

Die Geschichte umfasst knapp fünfzig Seiten, für einen Roman zu kurz, doch die vielen Ideen, Figuren und immerhin drei miteinander verknüpfte Handlungsstränge hätten durchaus zu einem Roman gereicht.

Angehängt ist ein zweiter Text, ein dreizehnseitiger Brief von Giuseppina Torregrossa an den „Maestro“ Andrea Camilleri. Darin lässt sie sich über Die Inschrift aus sowie über die Bedeutung, die der Autor Camilleri für sie hat, weil er wie sie aus Sizilien stammt, aus Porto Empedocle. Seine Romane und Erzählungen sind angesiedelt in Sizilien, in den Dialogen ist er teilweise sizilianisch oder in einer Mischung aus italienisch-sizilianisch. Das Sizilianische stellt auch für den Italiener (und erst recht für den Übersetzer) eine Herausforderung dar.

Torregrossa schildert, wie sie mit ihren Eltern als Mädchen von Palermo nach Rom zog und in der Schule wegen ihres Sizilianischen ausgegrenzt wurde, schlechte Noten bekam und in der Schule verstummte. Ein alter Lehrer half ihr, Romaciliano zu sprechen. Das half. Aber das eigentliche Wunder habe Camilleri mit seinen Büchern vollbracht, denn seit dem Erfolg von Commissario Montalbano ist das Sizilianische große Mode in ganz Italien.


Fazit

Andrea Camilleris Die Inschrift handelt in der ihm unverwechselbaren ironischen Weise von Kleinbürgern im Faschismus und von wechselvollen Ereignissen, die immer groteskere Züge annehmen. Dabei verwebt er die Vergangenheit mit der faschistischen Gegenwart des Jahres 1940 so, dass jede Zeit eine eigene Geschichte erzählt.


Pro und Kontra

+ inspiriert, spannend und intelligent erzählt
+ ironisch und grotesk
+ gelungene Mischung von Politik und Phantasie
+ faszinierende Figuren

Wertung:sterne4.5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 3/5


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