Wo beginnt die Nacht (Sven Haupt)

wo beginnt die nacht

Eridanus Verlag (November 2022)
Taschenbuch, 372 Seiten, 15,90 EUR
ISBN: 978-3-946348-35-1

Genre: Science Fantasy / New Weird


Klappentext

»Hören Sie«, begann das seltsame Wesen. Es nahm die Brille ab und versuchte, vernünftig zu klingen. »Aus Ihren Unterlagen geht ganz klar hervor, dass Sie keinerlei offizielle Legitimation besitzen. Der Zustand Ihrer Verwaltungseinheit ist gelinde gesagt beklagenswert. Kein Haus sollte wie ein führerloses Schiff durch die Existenzebenen treiben. Ihr sogenannter Personalstab besteht aus einem jämmerlichen Alkoholiker im Exil und einer impertinenten Katzendame, die sich für etwas Besseres hält, weil sie die Flügel des Adels trägt. Kein Wort dabei über Ihre sogenannte Haushälterin, von der Ihnen wirklich niemand abkauft, dass sie ein Mensch ist. Es wäre für uns alle viel einfacher, wenn Sie akzeptieren, dass Ihr Universum am Ende ist. Ihr Gesuch um die Rettung der letzten beiden Zeitlinien ist lachhaft, das müssen Sie doch einsehen. Die ewige Nacht wird kommen, ob Sie das nun wollen oder nicht.«


Rezension

"Kein Wunder, dass die Menschen pausenlos Religionen erfinden. Wenn sie wüssten, welche vollständig durchgedrehten, transdimensionalen Energiewesen ihre Geschicke lenken, würden sie das Bett morgens überhaupt nicht mehr verlassen." (Seite 46)

Niklas und Josephine versuchen, das Universum zu retten, und müssen immer wieder das grausame Ende verschiedener Zeitlinien mitansehen. Sie kommen immer zu spät und sind gefühlt allein in ihrem Kampf gegen Parasitenuniversen und eine Verwaltung, die ihr Universum samt aller Zeitlinien längst abgeschrieben hat und rückabwickeln will. In einem intelligenten Haus, das stetig seine Form verändert, reisen sie durch die Existenzebenen, auf der Suche nach einem Anker – einem Menschen, den es nur einmal gibt (und nicht in vielen Versionen in verschiedenen Zeitlinien). Ihr Anker wird ihnen schließlich schwer verletzt vor die Tür geworfen. Es handelt sich um eine junge Frau, die nur dank des Einsatzes eines gefährlichen Amulettes überlebt und dabei ihre Erinnerungen verliert. Diese junge, identitätslose Frau wird zur letzten Hoffnung für das Universum – und räumt den Laden bald ordentlich auf …

Der Titel „Wo beginnt die Nacht“ ist einem Vers von Rainer Maria Rilke entlehnt und ist zugleich eine der zentralen Fragen dieses Romans, der sich als „New Weird“ charakterisieren lässt und ebenso schwer zu fassen ist. Science Fiction und Fantasy verschmelzen zu einer Heldengeschichte ohne Helden, denn die, die das Universum beschützen sollen, sind selbst verloren. Alle Welten, die sie erreichen, versinken in Kriegen und Fanatismus und / oder werden von sogenannten Parasitenuniversen verschlungen. Niklas ist eigentlich ein Anker, doch er hat für sich die Wahrheit des Universums erkannt und längst aufgeben. Er ertränkt den Wahnsinn der sterbenden Zeitlinien in Alkohol, wenn das Haus ihm Zugang zu seiner Bar gewährt – oder der Eisbär im Kühlschrank ihn an seinen Biervorrat lässt. Dennoch tut er meist, was das Haus von ihm verlangt, und sucht nach einem neuen Anker. Unterstützung erhält er von der geflügelten, adligen Katze Josephine, die über hilfreiche Technologie verfügt, deren Funktionsweise mysteriös bleibt. Auch verbirgt die Katze ein Geheimnis, das relativ spät gelüftet wird, ist jedoch sehr offen, wenn es darum geht, Kritik zu üben. Sie und Niklas sind ein eingespieltes Team, das viele Konflikte austrägt und sich manchmal satt hat, doch ihre unglaublichen Erlebnisse haben sie auch zusammengeschweißt.

"Er ist nicht der Typ für Paradiese. Er sagt, er muss nicht jedem Horror ins Gesicht sehen. Er bevorzugt Abgründe, in die er hineinstarren kann, während er raucht." (Seite 111)

Zunächst begleiten die Leser*innen Niklas und Josephine, die zunehmend verzweifeln und kaum noch Hoffnung haben, als ihnen Clawdia praktisch vor die Füße beziehungsweise vor das Haus fällt. Auch ihre Zeitlinie ist schwer von Parasiten befallen und liegt im Sterben. Clawdia überlebt nur knapp und weiß nicht mehr, wer sie ist. Trotzdem soll ausgerechnet sie das Universum retten und die letzten einigermaßen stabilen Zeitlinien zu einem neuen Stamm zusammenführen. Wie genau sie das machen soll, erklärt ihr niemand, doch nach und nach beginnt Clawdia zu verstehen und lernt, durch die Existenzebenen zu reisen. Sie ist verunsichert, doch im Gegensatz zu Niklas entdeckt sie Schönes im Universum und sieht in den Parasiten mehr als Feinde. So lässt sie sich von einer Blumenfrau beeinflussen, die über ein kleines Universum voller träumender Menschen wacht, und sich von ihren Pflanzen und Mäusen den Weg zeigen. Und sie entdeckt die Wüste in sich: die Erinnerungen einer grausamen Herrscherin, die in dem Amulett, das Clawdias Leben gerettet hat, verborgen waren.

Unterstützung erhält Clawdia auch von Haushälterin Ana, die sicher kein Mensch ist, jedoch in Gestalt einer sehr alten Frau, die überwiegend russisch spricht, auftritt. Zudem gibt es in jeder Zeitlinie einen Robert, der immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein scheint und der mehr über die Zusammenhänge im Universum weiß, als er vorgibt. Ana und Robert sind zwei geheimnisvolle Figuren, die zunächst wie skurrile Nebencharaktere wirken, aber letztlich die Handlung stark beeinflussen. Und sie wissen mehr über alles, was geschieht, doch ebenso wie Autor Sven Haupt halten sie sich bedeckt. Hier wird vieles nur angedeutet und die einzelnen Handlungselemente scheinen wenig miteinander zu tun zu haben, doch letztlich hängt alles zusammen und ergibt zum Ende hin Sinn. Man muss all die Seltsamkeiten hinnehmen und ihnen offen begegnen, dann kann man in ihnen eine tiefere Bedeutung entdecken - oder auch nicht.

Verstörenderweise sind die letzten stabilen Zeitlinien Dystopien, in denen autoritäre Strukturen Ordnung erzwingen. Alle anderen sind in religiösem Fanatismus längst untergegangen, am Ende zerstören sich die meisten Zeitlinien schlicht selbst, weil die Gier nach Macht Menschen immer wieder verheerende Kriege führen lässt. Niklas stammt aus einer Reinheitszeitlinie, die auf den ersten Blick utopisch aussieht, doch schnell die toxische Wahrheit unter der strahlenden Fassade offenbart. Man könnte diese Zeitlinie als überzeichnete Version der 1950er beschreiben, überall gepflegtes Grün, die Männer haben das Sagen, die Frauen sind schmückendes Beiwerk, das immer lächeln muss. Die Gesellschaft unterliegt strengen, teils kruden Regeln, jeder überwacht jeden und hinter ihren mühsam aufrecht erhaltenen Fassaden sind die meisten unglücklich und trinken zu viel Alkohol. Die andere stabile Zeitlinie ist eine unmenschliche Militärdiktatur, deren Streben nach Ordnung und Größe zu Ausbeutung und Ausgrenzung führt. Man kann kaum glauben, dass in diesen düsteren Zeitlinien die Chance auf eine Zukunft liegt, doch „Wo beginnt die Nacht" ist letztlich auch eine hoffnungsvolle Geschichte, die zu überraschen vermag.

Die Handlung ist angenehm komplex und erfordert eine gewisse Geduld, denn anfangs erscheint vieles verwirrend, was für die Figuren ganz selbstverständlich ist. Es wird nichts erklärt, doch während dem Lesen versteht man nach und nach was beispielsweise ein Parasitenuniversum ist und wie die verschiedenen Existenzebenen miteinander interagieren. Es gibt auch einen Himmel und eine Hölle sowie Astralwesen, die man kaum zu Gesicht bekommt. Unsere eigene Gegenwart und Zeit erlebt man hingegen nicht und die Protagonist*innen bewegen sich überwiegend außerhalb von allem und reisen durch die Zwischenräume. Sven Haupt hat unheimlich viele kreative Ideen, manches ist einfach nur herrlich skurril, anderes berührend oder auch irritierend. Viele Szenen regen zum Nachdenken an, über viele schmunzelt man und einige verstören auch. In diesem Buch steckt viel Menschlichkeit, im schlechtesten wie auch im besten Sinne.

"Meine Erfahrung mit Menschen ist, dass je lauter sie sich über die Umstände beklagen, desto genauer wissen sie eigentlich, was als Nächstes getan werden muss. Sie reden jedoch beständig weiter, um zu verhindern, dass sie der Alternativlosigkeit ihrer Situation ins Auge sehen müssen. Ihr Weg liegt eigentlich glasklar vor ihnen." (Seite 168)


Fazit

Science Fiction und Fantasy verschmelzen in „Wo beginnt die Nacht“ auf einzigartige Weise zu einer surrealen Reise durch überwiegend dystopische Zeitlinien eines von Parasiten befallenen Universums. Dieser Roman ist ein wilder Trip durch verschiedene Existenzebenen und zugleich eine Geschichte der Selbstermächtigung, in der eine identitätslose Frau sich ihre Erinnerungen und ihre Handlungsfähigkeit zurückholt.


Pro und Contra

+ durchbricht Genreklischees und -grenzen
+ komplexe Handlung
+ surreale Reise durch unterschiedlichste Zeitlinien
+ skurrile Figuren
+ Clawdias Reise zu sich selbst
+ viel Humor und Hoffnung zwischen den Zeilen
+ überraschende, kreative Auflösung
+ hintergründiger, wunderbarer Schreibstil
+ ein klein wenig Romantik und Queerness

- Niklas und Josephine verblassen neben Clawdia

Wertungsterne4.5

Handlung: 4/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


Rezension zu "Niemandes Schlaf"

Tags: Science Fantasy, queere Figuren, progressive Phantastik, Zeitreisen, New Weird, Weird Fiction