Memory Cloud (Christian Günther)

Books on Demand / Selfpublishing (August 2023)
Reihe: Neon Samurai

Taschenbuch, 228 Seiten, 12,90 EUR
ISBN: 978-3757829698

Genre: Science Fiction / Cyberpunk


Klappentext

Neonbeleuchtete Straßen im Dauerregen, lebhaftes Treiben auf dem illegalen Markt, rasende Motorräder in verspiegelten Häuserschluchten, holografische Werbung, reflektiert in öligen Pfützen.

Dreizehn Geschichten aus der Welt von Neon Samurai.
Cyberpunk in Norddeutschland und rund um die Welt.
Androiden, KIs und eine ausgebeutete Natur - die Menschheit am Rande des Abgrunds.
Verlassene Vergnügungsparks, Terror mit Nano-Technik, virtuelle Welten.
Wirf einen Blick in die Abgründe der Zukunft.


Rezension

Als 2003 die Erstausgabe von "under the black rainbow" erschien, war noch nicht abzusehen, dass der Roman einmal Grundlage für eine Cyberpunk-Reihe wird. Nachdem Christian Günther zwischenzeitlich düstere Fantasy mit Horrorelementen geschrieben hat, widmet er sich inzwischen wieder der Science Fiction und hat "under the black rainbow" als ersten Band der "Neon Samurai"-Reihe neu aufgelegt. Auch der zweite Band, "Rost", ist bereits in einer überarbeiteten Version erhältlich. Als dritter Band ist nun "Memory Cloud" erschienen - kein Roman, sondern eine Kurzgeschichtensammlung, in der ältere Veröffentlichungen aus Anthologien und Magazinen sowie neue Geschichten Einblicke in die Welt von "Neon Samurai" geben. Im Vorwort erklärt Christian Günther, wie die Reihe entstanden ist. Zusätzlich ist den Geschichten eine zweiseitige Timeline vorangestellt, die einen groben Überblick über die Ereignisse gibt, die die Welt von "Neon Samurai" geprägt haben.

Die Klimakrise, Umweltzerstörung und Kriege haben die Welt stark verändert. Städte und Länder liegen in Trümmern. Die Reichen leben in irrsinnigem Überfluss, die Armen in zerfallenden Stadtteilen unter dem Gesetz der Straße. Das Internet, wie wir es kennen, gibt es nicht mehr. Es wurde durch neue, abgeschottete Netzwerke ersetzt. Europa ist zur Festung ausgebaut, an deren Mauern menschliche Schicksale zerschellen. Künstliche Intelligenzen haben einen eigenen Staat errichtet, der sich überall auf der Welt als Wohltäter inszeniert und sogenannte MINDs betreibt, die Nahrung und Medikamente bereitstellen. Doch den KIs fehlt die Menschlichkeit und statt Hoffnung verbreiten sie oft Grauen. 

Die Protagonist*innen sind überwiegend die Verlierer der Zukunft. Menschen ohne Ressourcen, die versuchen, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Zu überleben. Sie sind der Zerstörung, die andere anrichten, ausgeliefert, und treffen oft fatale und dabei menschliche Entscheidungen. Sie werden ausgebeutet und kämpfen für einen Rest an Würde, trotzen Extremwetter und Überschwemmungen. Sie leben überwiegend in urbanen Dschungeln, sind abhängig von den Zuwendungen des KI-Staats, oder schlagen sich sprichwörtlich selbst durch. Es gibt viele sympathische Figuren, die sich ihre Menschlichkeit in einer unmenschlichen Welt bewahrt haben. Menschen, die einander helfen und unerwartete Bündnisse eingehen. Daneben gibt es Egoisten, Influencer, Gewalttäter und Mörder. Die Mehrheit sind Männer im mittleren Alter, Softwaretester, Soldaten, Terroristen. Daneben gibt es einige Frauen, zu oft in Nebenrollen, sowie Kinder und Jugendliche, die sich teils erschreckend gut an ihre unerträglichen Lebensverhältnisse angepasst haben. Was fehlt sind queere Identitäten, auch wenn teils Geschlechterstereotype aufgebrochen werden.

Ein übergeordnetes Thema der Geschichtensammlung ist die Interaktion von Mensch und Technologie sowie deren Verschmelzung. Die älteren Texte wurden leicht überarbeitet, insbesondere in Hinblick auf den KI-Staat Lucas Prime, der oft nur ein Schatten im Hintergrund ist. Eine neue Welt, die viel verspricht, doch auch Ängste auslöst - zu Recht. Die Geschichten teilen sich eine Welt, eine finstere Zukunftsvision, in der der Cyberpunk endzeitliche Züge annimmt. Es ist spannend, die Verbindungen zwischen den Geschichten zu entdecken. Die älteren Texte haben alle das dreckige Cyberpunk-Feeling, sie enthalten Klischees, die Genrefans jedoch gefallen. Sie sind düster, brutal, technisch und neonbunt. Die neueren Texte sind schmuckloser und haben mehr Tiefe, die Figuren sind nahbarer und facettenreicher. Allen Texten gemein ist die dichte Atmosphäre, die den Stil von Christian Günther auszeichnet. Man merkt, dass er auch Illustrator und Künstler ist, denn die Texte lesen sich, als würde er mit Worten finstere Cyberpunkbilder mit Neonsprenkeln malen. 

Die Qualität der Texte ist nahezu durchgängig hoch und auch wenn sie sich eine Welt teilen, sind sie thematisch sehr unterschiedlich und einzeln lesbar. Viele der Geschichten spielen in (Nord-)Deutschland, einige jedoch auch in anderen Staaten wie Marokko oder dem im Meer versinkenden Inselstaat Tuvalu. Dem Autor reichen wenige Sätze, um seine Leserschaft ans andere Ende der Welt zu versetzen und sie völlig in den Alltag der Figuren eintauchen zu lassen. Auf wenigen Seiten entfalten sich Schicksale, die berühren, nachdenklich stimmen oder auch verstören. Dabei kommt insbesondere der Einfluss der Welt, ihrer destruktiven Strukturen und der Technologie auf die Individuen zum Tragen. Die Menschen hier sind in einer Welt der gescheiterten Migrationspolitik und der kapitalistischen Ausbeutung aufgewachsen. Die Reichen haben sich abgeschottet, verteidigen ihre Glitzerwelt mit Privatarmeen. Die Armen schlagen sich von Tag zu Tag durch, sind gezwungen, illegale und/oder gesundheitsschädliche Jobs anzunehmen oder organisieren sich in toxischen Gangs. Viele von ihnen scheitern, nur wenige Geschichten haben so etwas wie ein Happy End. Die Menschen, die einander helfen, die zusammenarbeiten, stehen trotz aller Widrigkeiten am besten da. 

Jede Geschichte beginnt mit einer illustrierten Doppelseite, die leider nur schwarz/weiß gedruckt sind. Doch auch ohne Farbe entfalten die Illustrationen ihre Wirkung, sind dadurch noch düsterer und passen gut zu den jeweiligen Geschichten - auf die im Folgenden jeweils kurz eingegangen wird: 

In der ersten Geschichte, "Debugging" (erstmals erschienen 2003), geht es um einen Softwaretester, der mit unfertigen VR-Szenarien arbeitet. Diese Tests sind illegal, da die unfertigen Programme zu schweren Hirnschäden führen können. Doch Protagonist Sol ist arm und die Tests eröffnen ihm immerhin die Möglichkeit, seinem tristen Alltag zu entkommen. Sein neustes Testprogramm hat einen unerwarteten, spektakulären Effekt - und das Wissen darum wird zur Bedrohung für Sol. "Debugging" ist Cyberpunk pur, die perfekte Symbiose von High-Tech und Low-Life.

"Dreistern Blau" (erstmals erschienen 2008 in "Nova" #8) zeigt eine verstörende Szene in einem Grenzbunker. Soldaten entdecken Flüchtlinge und bringen sie zum Bunker, versorgen die ausgemergelten Menschen notdürftig und warten auf weitere Befehle. Als diese kommen, trifft Protagonist Amir eine schreckliche und zugleich menschliche Entscheidung. Ein kurzer Text, der einen angewidert schaudern lässt und eindrucksvoll zeigt, wie Entmenschlichung zu Verrohung und Gewalt eskaliert. 

Die Titelstory "Memory Cloud" (2023) gehört zu den neuen Texten in dieser Sammlung und erzählt von einer bizarren Gameshow im Setting eines heruntergekommenen Vergnügungsparks, einem Nachbau Venedigs. Protagonistin Leona, eine Art Reality-Star und Influencerin, wird von umgebauten Androiden, die einst Menschen unterhalten haben, durch den Park gehetzt. Das Ganze artet in eine völlig abstruse und geschmacklose Show aus, die Leona zutiefst erschüttert und die Zuschauer ratlos zurücklässt. Christian Günther zeigt in diesem bizarren Setting die Grenzen und Gefahren von Künstlicher Intelligenz, der letztlich das Menschliche fehlt.

"Perimeter" (2023) handelt von Menschen, die sich im KI-Staat Lucas Prime in einem Höhlendorf verstecken. Sie leben von dem, was die riesigen Erntemaschinen achtlos auf den Feldern liegen lassen und schützen sich mit Hilfe des titelgebenden Perimeters vor Entdeckung. Sie wollen nicht zu modernen Arbeitssklaven der KIs werden, die die menschlichen Arbeiter zwar versorgen, sie jedoch wie Maschinen behandeln und damit entmenschlichen. Lieber leben sie in ärmlichen Verhältnissen, jedoch selbstbestimmt. Doch es kommt, wie befürchtet: Der KI-Staat entdeckt die Abtrünnigen. Bis zu dieser Geschichte haben die Leser*innen nur wenige Blicke auf die Androiden des KI-Staats erhascht und eine MIND besucht. Hier erhält man nun Einblicke in die Abgründe von Lucas Prime und erlebt zugleich, was Menschen alles auf sich nehmen, um ihre Freiheit zu bewahren.

"Die Städte seien graue und gesichtslose Orte geworden. Einförmige Gebäude reihten sich zu langen, farblosen Straßenzügen aneindander. Die Maschinen sorgten dafür, dass die Menschen überleben, aber sie erlauben ihnen nicht, eigene Entscheidungen zu treffen." (Seite 81)

"Die letzte Ernte" (2023) führt uns zurück nach Norddeutschland, wo Bauer Dürer stur seinen Hof weiterführt, auch wenn die Ernten wegen der Klimakrise  immer dürftiger ausfallen. Die Höfe der Nachbarn sind längst aufgegeben, ihre Felder überdüngt und tot. Nun kündigt sind ein verheerender Sturm an und Dürer will seine Ernte einfahren, bevor alles vernichtet wird. "Die letzte Ernte" widmet sich den dramatischen Folgen der Klimakrise und erzählt von einem Menschen, der nicht aufgeben will und an seinem alten Leben festhält. Auf wenigen Seiten wird aus dem engstirnigen Dürer ein facettenreicher Charakter, dessen Beweggründe absolut nachvollziehbar sind und der Einsicht zeigt. Hinzu kommen zwei einprägsame Nebenfiguren und die Erkenntnis, wie wichtig es ist, nicht allein zu sein.

In "Einhundert Worte für Tod" (erstmals erschienen 2011 in der Anthologie "Emotio") sehen wir zunächst die schillernde Welt der Reichen in Gestalt eines Luxushotels, in dem sich zwei Terroristen vor den Konsequenzen ihrer Handlungen verstecken. Ein Frachtschiff hat die vordere Häuserfront der Hafencity von Hamburg zerstört - und eine tödliche Fracht mitgebracht. Ein Nanovirus mit verheerenden Auswirkungen. Protagonist Seven wundert sich, warum seine Partnerin eine Waffe unter ihrem Kopfkissen versteckt, und der Grund ist ein Alptraumszenario für ihn. Christian Günther erzählt hier eine cyberpunkige Mafiastory inklusive zwielichtigem Boss und einem Protagonisten, den die Fehler der Vergangenheit verfolgen, der Schulden begleichen muss und so zum mörderischen Werkzeug wird. 

In der neuen Story "Dream Boy, Black Angel" (2023) greift der Autor Ereignisse aus "Einhundert Worte für Tod" auf und erzählt von einem Gangkrieg. Nachdem das Frachtschiff in die Hafencity gekracht ist und das Gebiet weiträumig evakuiert und abgesperrt wurde, machen sich zwei Gangs auf den Weg, die Hafencity zu erobern. Dabei liefern sie sich eine brutale Schlacht und werden Opfer des Nanovirus. So werden die Gangs Teil eines grausamen und widerlichen Experiments. Aufgrund seiner künstlichen Lunge widersteht der Protagonist dem Virus länger und kann die gruseligen Auswirkungen so beobachten. "Dream Boy, Black Angel" erinnert an "Akira", hier gibt es Gangs aufs Motorrädern und blutige Straßenkämpfe sowie die unerwartete Verbrüderung zweier verfeindeter Gangmitglieder.

"Lotus Effekt" (erstmals erschienen 2008 in der Anthologie "Lotus Effekt") darf in dieser Sammlung natürlich nicht fehlen. Protagonist Rho hat einen Job, bei dem täglich seine Erinnerungen gelöscht werden. Angeblich geht es dabei um sensible Kundendaten. Doch ihn quälen gewaltvolle Erinnerungsfetzen, die er nicht zuordnen kann. Irgendetwas muss schief gegangen sein bei den Löschungen. Rho erhofft sich Hilfe von einer neuartigen Nanotherapie und kommt dem Geheimnis um die Art seiner Arbeit auf die Spur. Eine harte Cyberpunkstory, in der Technologie eingesetzt wird, um Menschen zu Werkzeugen zu formen, inklusive verheerender Nebenwirkungen. 

Die Klimakrise bestimmt das Leben von Protagonist Ito in "König der grauen Inseln" (erstmals erschienen 2008 in "Phantastisch" #31). Seine Heimat Tuvalu wurde in Folge des steigenden Meeresspiegels überspült, während er seinen Kriegsdienst in einem sinnlosen, brutalen Krieg leistete. Alles, was übrig ist, sind Plattformen, dort, wo einst die Inseln von Tuvalu waren. Hier lebte Ito mit einigen Fischern, doch inzwischen ist er allein und zufrieden damit. Eines Tages wird ein Boot mit zwei Männern angespült, der eine ist tot, doch den anderen kann Ito retten. Einen Amerikaner auf einer Friedensmission. Die beiden verbringen eine kurze, wortkarge Zeit miteinander und Ito erhält ein Geschenk, das ihm hilft, seine Plattform zu verteidigen. "König der grauen Inseln" ist eine ruhige, zutiefst beklemmende und traurig stimmende Geschichte über einen Menschen, der an seinen Wurzeln festhält, ganz gleich, wie sinnlos dies erscheint.

"Spürst du das hier? Das ist das Land, der Boden, der mir so viel bedeutet. Wären die Plattformen nicht mehr da, dann würde nichts mehr daran erinnern, dass hier einmal die Inseln von Tuvalu mein Volk beherbergten. Nur der blanke Ozean bliebe zurück, und ein bleicher Schatten unter seiner Oberfläche. Aber dies ist mein Land, mein Leben. Einmal habe ich es schon verloren, als es im Meer versank, während ich irgendwo dort draußen auf einem seelenlosen Kriegsschiff Dienst tat. Noch einmal werde ich es nicht verlieren, auch wenn es nur noch aus diesen Plattformen hier besteht." (Seite 157)

In "Fehlverhalten" (erstmals erschienen 2022 in "PHANTAST" #27) siedelt Protagonist New in eine hochmoderne KI-Siedlung um, in der seine Mutter für Lucas Prime arbeitet. New ist in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, doch das Leben in Armut würde er jederzeit dem Leben in der sterilen KI-Siedlung vorziehen. Die Mutter will nur das Beste für ihn, doch letztlich opfert sie ihre Menschlichkeit und das neue Leben ist eigentlich kein Leben mehr. New findet immerhin schnell eine Freundin, die ihn dazu verleitet, gegen Regeln zu verstoßen. Die KIs mahnen das Fehlverhalten an, doch zunächst passiert nichts - bis New gewaltsam in die KI-Welt eingefügt wird. Wer diese Geschichte liest, versteht, warum die Menschen in "Perimeter" den KIs in Lucas Prime entgehen wollten. Die Menschen werden von den KIs zwar versorgt, doch dabei in eine gleichförmige, sterile Welt gepresst, die dem Menschsein widerspricht. Die Geschichte wirkt umso bedrückender, da sie aus der Sicht eines Kindes geschrieben ist.

"Butterfly" (erstmals erschienen 2016 in der Anthologie "Gamer") ist eine der wenigen Geschichten mit einer Protagonistin, die hier Misogynie, Missbrauch und Misshandlung über sich ergehen lässt. Butterfly arbeitet in einem Café, wo sie regelmäßig von ihrem ekligen Chef gegen ihren Willen berührt wird. Sie klaut ebenso regelmäßig Geld aus der Kasse, um den ganzen Scheiß irgendwann hinter sich lassen zu können. Als sie ihren Chef tot auffindet, will sie das Café übernehmen. Ihre Hoffnung wird jäh von brutalen Schutzgelderpressern zerstört - und ab da gibt es zwei Versionen für das Ende der Geschichte. Beide beinhalten eine Art Befreiung für Butterfly, wobei ihr in beiden Versionen wieder Gewalt angetan wird. Obwohl es im Cyberpunk oft facettenreiche Frauenfiguren gibt, gibt es in der hyperkapitalistischen, dystopischen Zukunft auch jede Menge Misogynie. Ein Thema, das von Christian Günther hier nicht sensibel genug umgesetzt wurde.

"88 Prozent" (erstmals erschienen 2007 in der Zeitschrift "Envoyer") handelt von dem Gamer Leif, der einem Arcadespiel verfallen ist. Auch als die Welt um ihn herum im Chaos versinkt, sitzt er weiter in der Maschine und versucht, seinen eigenen Highscore zu knacken. Seinem manischen Spiel wird ein Ende gesetzt, als eine Gang in der Spielhalle aufschlägt. Doch sie schlagen Leif nicht zusammen, sondern fordern ein Gamerduell. "88 Prozent" ist eine farbintensive Skizze zukünftiger Jugendkultur. Während der Protagonist völlig in seiner Sucht versinkt, schließen sich perspektivlose Teenager zu brutalen Gangs zusammen. Kein neues Motiv, aber perfekt in die Cyberpunkzukunft übertragen.

"Der Markt" (2023) ist zugleich Abschluss und Highlight dieses Sammelbandes: Wir begleiten Protagonistin Jin durch den Souk im Norden Marokkos, eine Art riesiger Sprawl, in dem sich kriegsgebeutelte Menschen zu neuen Familien zusammengeschlossen haben und viele weiter Richtung Europa wollen. Die meisten ertrinken im Mittelmeer oder sterben vor den hohen Mauern an den Küsten. Jins Bruder Tarek ist ebenfalls aufgebrochen, seitdem hat niemand mehr etwas von ihm gehört. Jin lebt bei ihren Großeltern, die eigentlich nicht ihre Großeltern sind, so wie Tarek nicht ihr Bruder war, und kümmert sich darum, Medikamente für den Opa zu beschaffen. Dazu muss sie den vor Leben überquellenden Markt durchqueren sowie ein verlassenes Viertel voller nie fertig gebauter Ruinen. Auf dem Weg begegnet sie Maschinenfeinden, die die MINDs des KI-Staats Lucas Prime ablehnen und davor warnen, sich von den KIs abhängig zu machen. Doch die Menschen haben keine Wahl, sie sind auf die Hilfe der MINDs angewiesen, weil sich andere Menschen von ihnen abgewandt haben. Eine vergleichsweise ruhige Story, die ein eindrucksvolles Porträt der Zukunft zeichnet und im Kern zutiefst menschlich ist. Auch in einer menschenfeindlichen Welt gibt es noch Menschen, die einander helfen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Nach der überwiegend düsteren und beklemmenden Atmosphäre der meisten Geschichten ein Funken Hoffnung.

"Diejenigen, die es schafften, die das nördliche Ufer des Mittelmeers erreichten, fanden sich am Fuß der Mauern wieder. An schwerbewachten Stränden, im Kreuzfeuer von Drohnen, verdurstend im Angesicht des Ziels ihrer Träume. Festung Europa." (Seite 207)


Fazit

"Memory Cloud" ist eine Kurzgeschichtensammlung mit vielen guten, einigen herausragenden und vor allem brutal atmosphärischen Cyberpunkstories, jede davon eine Skizze aus der Welt von "Neon Samurai" - eine Zukunft mitten in der Klimakrise, zerrüttet von Kriegen und Umweltzerstörung, bedroht von Künstlichen Intelligenzen, die einen eigenen Staat gegründet haben. Zentrale Themen sind die Interaktion von Mensch und Technologie und die zunehmende Entmenschlichung im ausufernden Kapitalismus. Die KIs bieten scheinbar einen Ausweg, der jedoch ebenso in die Entmenschlichung führt.  


Pro und Contra

+ überwiegend gute und sehr gute Kurzgeschichten
+ facettenreiche, sehr unterschiedliche Figuren
+ düstere, beklemmende Atmosphäre mit wenigen Hoffnungsschimmern
+ oft hart und brutal und dabei im Kern sehr menschlich
+ alle Geschichten sind Teil der Welt von "Neon Samurai"
+ gute Mischung aus Genreklischees und modernem Cyberpunk
+ "Der Markt" als Highlight der Sammlung
+ schöne Gestaltung des Taschenbuchs

o keine Vorkenntnisse aus der Reihe notwendig

- unangenehme Misogynie in "Butterfly" 

Wertungsterne4.5

Geschichten: 4/5
Auswahl: 4/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


Interview mit Christian Günther (2018)

Rezension zu "Die Aschestadt" (FAAR, Band 1)

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Rezension zu "Am Seelenbrunnen" (FAAR, Band 3)

Rezension zu "Neon Samurai I - under the black rainbow" 

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Interview mit Christian Günther (2008)

Tags: Cyberpunk, Christian Günther, Dystopie, Künstliche Intelligenz, Neon Samurai, deutschsprachige SF, Kurzgeschichten