Ein Fremder klopft an deine Tür (Håkan Nesser)

Nesser Ein Fremder klopft

btb, 2023
Originaltitel: En främling knackar på din dörr – och två andra brottstycken från Maardam med omnejd (2022)
Übersetzung von Paul Berf
Gebunden, 366 Seiten
€ 24,00 [D] | € 24,70 [A] | CHF 33,90
ISBN 978-3-442-76250-7

Genre: Krimi, Belletristik


Rezension

Drei Kriminalfälle ereignen sich in und um Maardam, der fiktiven schwedischen Stadt Van Veeterens und Barbarottis, die einen Nachfolger in Kriminalinspektor Jung gefunden haben. Jung ist ein Mann um die fünfzig Jahre, über den wir nur wenig erfahren. Er wird in der ersten Geschichte, Bewunderung, in einer kleinen Rolle eingeführt, in Buße und Ein Fremder klopft an deine Tür taucht er als Erinnerung oder Randerscheinung auf. Nesser geht es weniger um die Ermittlungsarbeit, sondern um Fragen wie: Welche Umstände führen zu einem Verbrechen? Warum tötet ein Mensch? Lässt sich Mord rechtfertigen?

Anna Kowalski, Mitte dreißig, Sekretärin am Erasmusgymnasium, hat sich vor zehn Jahren gegen ein romantisches Abenteuer und für eine Ehe mit dem grundsoliden Kartonfabrikanten Herbert Kowalski entschieden. Die Ehe ist kinderlos, was natürlich an ihr liegen muss, da er aus erster Ehe ein Kind hat. Zumindest ist er von seiner Vaterschaft überzeugt. Keiner hat den Mumm einzugestehen, dass die Ehe dem Ende entgegensiecht. Am Valentinstag findet Anna neben ihrer Wohnungstür einen Umschlag und, bereit für ein Liebesabenteuer, beschließt sie, dass er für sie bestimmt sein muss, nicht für ihre beneidenswerte, von Männern umschwärmte Nachbarin Wilma Verhoven. Er enthält einen Schlüssel für ein Bahnhofsschließfach mit einer Flasche Champagner und einer Rose als Inhalt.

Wer könnte der heimliche Bewunderer sein? Anna erstellt eine Liste mit fünf möglichen Kandidaten. Ganz oben steht der von den Schülerinnen umschwärmte Philosophielehrer, es folgen ein weiterer Lehrer, der Schulpsychologe, ein verheirateter Anwalt und guter Freund Herberts sowie ein Semiotik-Professor, den seine Exfreundin für einen möglichen Psychopathen hält. Der Bewunderer schickt Anna eine Theaterkarte, erscheint aber zu Annas Enttäuschung nicht zur Vorstellung. Wenig später wird Wilma in ihrer Wohnung erschlagen aufgefunden und Anna verschwindet spurlos.

Der Protagonist in der zweiten Geschichte, Buße, ist ein Mann Mitte sechzig, ein ehemaliger Philosophielehrer am Erasmusgymnasium in Maardam. Er lebt seit zehn Jahren in selbstgewählter Einsamkeit auf einem abgelegenen Hof. Seine einzige Gesellschaft sind zwei Islandpferde, um die er sich seit dem Tod ihres Besitzers kümmert. Sein Geld verdient er als Übersetzer, gerade befasst er sich mit einem vergessenen deutschen Philosophen aus dem neunzehnten Jahrhundert.

Den Hof verlässt er nur zweimal die Woche, um mit dem Bus in die Stadt zum Einkaufen zu fahren. Auf einer dieser Touren bemerkt er die Schülerin Sara, die er vorher noch nie gesehen hat. Sie ist neu in der Gegend. Etwas stimmt mit ihr nicht, und er fast einen tödlichen Plan. Inspektor Jung ermittelt, aber dieser Fall sollte vielleicht besser ungelöst bleiben, schon aus Gerechtigkeit.

Ein Fremder klopft an deine Tür: Judith Miller, Mitte vierzig, Lehrerin am Erasmusgymnasium, und alleinerziehende Mutter, hat Tochter Nora versprochen, ihr am achtzehnten Geburtstag den Namen des Vaters zu offenbaren. Dieser Tag steht kurz bevor. Kein Wunder, dass Judith an die Nacht zurückdenken muss, als eines späten Abends ein Fremder an ihre Tür klopfte und sie eine Entscheidung traf, die ihr ganzes Leben bestimmen würde. Vor ein paar Monaten hat sich der Fremde bei ihr aus dem Gefängnis gemeldet. Felix Sandor war ein Mörder und Teil eines Trios, das vor achtzehn Jahren Goldbarren im Wert von einer Million Euro gestohlen hat. Die Täter wurden gefasst und verurteilt, die Beute jedoch ist bis heute verschwunden.

Felix Sandor hat das Gold gut versteckt und Judith soll es bekommen. So lautet sein letzter Wille. Doch auch der letzte Überlebende des Trios, der inzwischen aus der Haft entlassene Leo Frenkel, sieht sich als rechtmäßiger Erbe. Mit Sandors Tod beginnt ein mörderisches Katz-und-Maus-Spiel. Als eine Leiche auftaucht, tut Inspektor Jung sein Bestes, um die Umstände aufzuklären. Doch auch in diesem Fall könnte man behaupten, dass Wahrheit und Gerechtigkeit überkommene Ideen sind.

Eine von ihrer Ehe frustrierte Schulsekretärin, ein schwer angeschlagener Übersetzer, eine alleinerziehende Mutter: Was die drei verbindet, ist der Ort Maardam, das Erasmusgymnasium, ein dunkles Geheimnis und der Tod. Schon bald ist klar, dass alle drei in tödlicher Gefahr schweben oder eine darstellen. Doch wer ist Opfer oder Täter? Er möge den Tod, er garantiere eine Geschichte, soll Håkan Nesser einmal gesagt haben. Nesser zeigt uns gewöhnliche Menschen, ordentliche Vertreter*innen der bürgerlichen Mittelschicht, bieder, langweilig und mitunter auch etwas verschroben anmutend.

Doch hinter deren Geschichten verbergen sich düstere Lebensgeheimnisse. Schon ein kleiner Schritt abseits des eingetretenen Pfades kann das Leben von einer Sekunde auf die andere in eine völlig neue Richtung lenken: ein Mann lässt sein Baby im Auto zurück, ein anderer hält nachts nur kurz an einer Autobahntankstelle, eine Frau öffnet einem Fremden die Tür, eine andere fühlt sich magisch zu einem Fremden hingezogen. Ihre Geschichten haben nichts miteinander zu tun, gleichwohl spiegeln oder ähneln sie sich mitunter und zeigen, wie verschieden die Menschen mit Ungewissheiten, Zweifeln und existentiellen Fragen umgehen.


Fazit

Drei Kurzkrimis aus Schweden, poetisch, tiefgründig, leichtfüßig und spannend. Raffiniert und eigenwillig bohrt sich Nesser in die Gedanken- und Gefühlswelt seiner vom Leben beschädigten Figuren.


Pro und Kontra

+ unterhaltsam und witzig, ein Plädoyer für die Vernunft
+ fokussierte Erzählweise
+ intensive Atmosphäre

Wertung:sterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5


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Tags: Håkan Nesser, schwedischer Kriminalroman, philosophischer Roman, Kurzromane