Amatka (Karin Tidbeck)

amatka

Vintage Books (2017)
Taschenbuch, 216 Seiten, 15,95 EUR
ISBN: 978-1-101-97395-0

Genre: Science Fiction, New Weird, Dystopie


Klappentext

Where everyone has a role, language has strange properties, and nothing – not even the very fabric of reality – can be taken for granted. Vanja Essre Two is sent to the wintry colony of Amatka on an assignment to collect intelligence for the government. Dissent is not tolerated in Amatka, nor is romantic love, but Vanja nonetheless falls for her housemate Nina, a true believer in the colony’s ways. But when Vanja is drawn into a resistance movement, she must choose between love and a revolution, which promises liberation at the cost of tearing the world as they know it apart.


Rezension

Karin Tidbecks Romanerstlingswerk „Amatka“ beginnt recht unspektakulär. Wir begegnen unserer Protagonistin Vanja Essre Two in einem Zug Richtung Amatka, einer der fünf Kolonien in einer nicht näher bezeichneten Welt. Von ihrem Arbeitgeber, einem Unternehmen, das Hygiene- und Pflegeprodukte herstellt, hat sie einen Auftrag bekommen: In der abseits in einer kalten Einöde gelegenen Kolonie soll sie Informationen sammeln, und zwar über das Konsumverhalten der dortigen Bevölkerung in Bezug auf Hygieneprodukte. Soweit, so unaufregend. Dort angekommen wird jedoch schnell klar, dass die Welt, in der „Amatka“ spielt, nicht so banal und trivial ist wie es diese Prämisse vermuten lässt.

Zunächst fügt sich Vanja recht schnell in den Alltag Amatkas ein. Sie wird einer Wohneinheit zugeteilt und von Nina, einer ihrer Mitbewohner*innen, in die Abläufe der Kolonie eingeführt, denn hier in Amatka gelten etwas strengere Regeln als in Essre, der Hauptkolonie, aus der Vanja stammt. Immer wieder stellt sie die Sinnhaftigkeit dieser Regeln in kleinen Momenten in Frage oder hält sie – eher aus Unachtsamkeit als aus Ungehorsam – nicht genau ein, was für sie tiefgreifendere Konsequenzen nach sich zieht als sie zunächst ahnt. Besonders das regelmäßige Kennzeichnen aller Gegenstände – indem sie berührt werden und ihr Name laut ausgesprochen wird, was laut dem alles kontrollierenden Zentralkomitee eine der wichtigsten Aufgaben der Bevölkerung überhaupt darstellt – versäumt sie hin und wieder. So löst sich beispielsweis ihr Reisekoffer, den sie unter ihrem Bett verstaut und dort vergessen hat, irgendwann zu ihrer Überraschung in einen undefinierbaren weißen Glibber auf.

Spätestens als Vanja den Bibliothekar Samins‘ Evgen kennenlernt und von ihm Bücher über die Geschichte Amatkas bekommt, fallen ihr immer mehr Ungereimtheiten auf, was schon damit beginnt, dass die Bibliothek verdächtig wenig Bücher besitzt und einige offensichtlich zensiert oder verändert wurden. Auch trifft Vanja bei ihren Nachforschungen immer wieder auf die in Amatka verehrte Poetin Anna, die mit hundert weiteren Einwohnern angeblich in einem Feuer umgekommen ist – oder doch nicht? Es offenbaren sich ihr Hinweise darauf, dass das Zentralkomitee in eine größere Verschwörung verwickelt ist, die bis in Vanjas eigene Vergangenheit zurückreicht. Schließlich wird sie Teil einer kleinen Widerstandsbewegung, denn auch einige andere Bewohner*innen Amatkas sind dem Zentralkomitee nicht so ergeben, wie es zunächst den Anschein hat.

Orwells "1984" und China Miévilles "Embassytown" kommen einem beim Lesen unwillkürlich in den Sinn, gerade wegen der kühlen Atmosphäre, die in „Amatka“ vorherrscht, und der Rolle, die Sprache in dem Roman einnimmt. Sie ist hier nicht nur ein reines Kommunikationsmittel, sondern viel mehr ein Instrument, das die Realität im wahrsten Sinne des Wortes aufrecht erhält. Eine genaue physikalisch ausgearbeitete Erklärung dafür bietet das Buch allerdings nicht. Es ist eines der vielen Mysterien, die in „Amatka“ ständig im Hintergrund lauern, ein leises Hintergrunddröhnen, das im Verlauf der Handlung immer weiter anschwillt. Das dadurch heraufbeschworene Gefühl, dass die Realität nicht das ist, was sie zu sein scheint, verleiht dem Roman etwas subtil Unheimliches.

Dabei steht auch immer die Frage im Raum, wann und wo die Handlung des Buches überhaupt spielt. Was war vor allem, vor der großen Kolonisierung? Vanja findet anhand von Büchern und geheim gehaltenen, in der Einöde liegenden Ruinen heraus, dass mehr hinter der Geschichte steckt, die das Zentralkomitee als offizielle Historie der Kolonien ausgibt. Auch wenn sie viele der Hinweise nicht genau deuten kann, können wir als Leser*innen ein paar Vermutungen anstellen. Handelt es sich hier um die Erde nach vielen, vielen Jahrhunderten und Jahrtausenden? Ist es eine Art Paralleluniversum, zu der die Menschen irgendwann Zugang erlangt haben? Oder handelt es sich hier einfach um einen Exoplaneten, den eine Raumfahrt betreibende Menschheit der Zukunft irgendwann kolonisiert hat? Trotz der allgemein eher düsteren und technisch-kalten Atmosphäre gibt es auch Momente der Wärme in „Amatka“. Allen voran eine Liebesgeschichte zwischen Vanja und Nina, die so organisch und einfühlsam in die Geschehnisse eingewoben ist, dass sie in keiner Weise aus der Handlung heraussticht oder unangebracht wirkt. Alles in „Amatka“ ist aus einem Guss. Man spürt deutlich, dass Karin Tidbeck lange an dieser Geschichte gearbeitet hat, trotz des eher überschaubaren Umfangs des Buches.

Das unmittelbare Ende wird nicht allen gefallen, einigen vielleicht auch vor den Kopf stoßen, gerade Leser*innen, die gerne jedes Detail erklärt haben möchten. Dadurch, dass Tidbeck dies jedoch nicht tut, bewahrt they eine gewisse Aura des Mysteriösen, die they das ganze Buch über geschickt aufgebaut hat. Das Mysterium Amatka bleibt bis zum Ende bestehen, Vanja Essre Two und wir, die Leser*innen, bekommen nur einen kleinen, aber faszinierenden Einblick in eine Welt, deren Fassade jeden Moment zu bröckeln droht.


Fazit

„Amatka“ ist ein schwer zu kategorisierender, angenehm kurzer Roman, der viele Geheimnisse in sich beherbergt, denen man als Leser*in sehr gerne zusammen mit der Protagonistin auf den Grund geht. Die anfänglich aus anderen Sci-Fi-Geschichten bekannten Elemente treten schnell in den Hintergrund und machen Platz für spannende Ideen in Bezug darauf, welche Rolle Sprache, Identität und Geschichtserzählung für uns Menschen spielen können.


Pro und Contra

+ stimmige Darstellung einer dystopieartigen Welt
+ keine klischeehaften Charaktere und Beziehungen
+ sehr gutes Maß an Mysteriösem, das man als Leser*in am liebsten selbst ergründen möchte
+ im besten Sinne „weird“, ohne dabei willkürlich zu sein
+ sehr kurzweilig, keinerlei Längen

- uneindeutiges Ende kann für manche Leser*innen unbefriedigend sein

Wertungsterne4

Figuren 4/5
Handlung 4/5
Lesespaß 4,5/5
Preis-Leistung 4/5


Dies ist eine Gastrezension von Tobias Eberhard. 

Tags: Dystopie, New Weird