Die Flut (J. G. Ballard)

die flut

diaphanes, 21.09.2023
Originaltitel: The Drowned World (1962)
Aus dem Englischen von Helma Schleif
Paperback, 224 Seiten
€ 18,00 [D] | € 18,95 [A] | CHF 27,90
ISBN: 978-3-0358-0454-6

Genre: Weird Fiction


Klappentext

Die Polkappen der Erde sind geschmolzen, London ist überflutet, Europa ein von Leguanen und Alligatoren bevölkerter Dschungel, in dem ein Klima herrscht wie in der Kreidezeit. Von seinem Luxusapartment im 10. Stock des Hotel Ritz aus kartografiert Dr. Kerans mit einer Gruppe von Wissenschaftlern die verbliebenen Landmassen. Die extremen Umweltbedingungen verändern die Träume der Menschen, die nach und nach in eine gefährliche Regression geraten – zurück in eine archäopsychische Vergangenheit, ein imaginiertes Trias Eden… Ein dystopischer Klassiker und Vorläufer der »Climate Fiction«.


Rezension

Mit dem ersten Satz werden die Leserinnen direkt in James Graham Ballards im Jahr 1962 veröffentlichten Roman The Drowned World, der nach Karneval der Alligatoren (1970) und Paradiese der Sonne (2008) gerade in einer neuen, der dritten Übersetzung als Die Flut bei Diaphanes veröffentlicht worden ist, hineingezogen: „Bald schon würde es zu heiß sein“. Durch ein katastrophales Naturereignis ist es zum Klimawandel gekommen, extreme Wetterlagen und radioaktive Strahlung durch den Verlust der Ozonschicht haben den Tod des Großteils der Menschheit verursacht. Der weltweite Temperaturanstieg erreicht am Äquator Spitzen von 85 Grad Celsius. Die wenigen noch Lebenden bewegen sich vor der brutalen Hitze und ihren Auswirkungen fliehend in Richtung Grönland, wo das Refugium Camp Byrd eingerichtet wurde.

Ein Wissenschaftsteam und eine militärische Aufklärungseinheit der UNO befinden sich in der früheren Metropole London, die zu einem riesigen Lagunenkonstrukt geworden ist. Begünstigt durch die Klimakatastrophe, haben bestimmte Pflanzen- und Tierarten, die zu den ältesten auf der Erde gehören (wie Krokodile und Leguane), sich darin einen neuen Lebensraum erschlossen und passen sich an die fortlaufenden Umweltveränderungen durch Mutation an.

Das Wissenschaftsteam soll eine Bestandsaufnahme der ökologischen Veränderungen vornehmen. Leiter der Forschungsstation und Sanitätsoffizier ist Dr. Robert Kerans, sein Stationsassistent Dr. Alan Bodkin. Die Zivilistin Beatrice Dahl lebt in einem Luxusapartment des Hotels Ritz, in dem Kerans sich eingerichtet hat. Das Hotel steht bis zum sechsten Stock unter Wasser, ist noch klimatisiert und mit Lebensmittelvorräten gut ausgestattet. Der militärische Leiter der Unternehmung ist Colonel Riggs, ein Freund von Kerans. Riggs und seine Einheit sind für die Sicherheit und die Evakuierung der verbliebenen Menschen verantwortlich. Als die Teams nach Grönland zurückbeordert werden, zieht nur die Aufklärungseinheit ab. Die Situation des Wissenschaftsteams und Dahls verkompliziert sich durch das Eintreffen des Piraten Strangman und seiner Bande.

Die Beschreibung des katastrophalen Naturereignisses erfolgt nicht akkurat und mit wenigen Erklärungen. Die Leserinnen können dies hinnehmen, oder aber sie ignorieren es, zumal es mit Blick auf die Klimaproblematik darauf verkürzbar ist, dass die Katastrophe nicht anthropogen ist. Das ökologische Gleichgewicht auf der Erde ist nicht nur gestört, sondern destabilisiert. Es erfolgt eine Entwicklung in einen neuen Systemkontext. Dagegen kann die Menschheit nichts unternehmen. Es gibt keine Möglichkeit, die Anpassung zu steuern. Die Weltuntergangsgeschichte Sturz in die Sonne von Charles Ferdinand Ramuz hat eine nicht menschgemachte Klimakatastrophe zum Inhalt und erzählt davon, wie Menschen sich in der Gegenwart des Untergangs verhalten. Der baldige Tod ist unausweichlich, und sie machen das, was sie immer gemacht haben. So ähnlich verhält es sich mit Ballards Die Flut. Das Wissenschaftsteam ist allein mit der Beobachtung der Veränderungen und mit so etwas wie ökologischer Buchhaltung beschäftigt. Der Pirat Strangman und seine Bande leben Gewalt, plündern die leeren Städte, kehren zu archaischen Ritualen zurück, werden in multipler Weise übergriffig.

Keine der Figuren ist in der Lage, einen Beitrag zur Rettung der Welt zu leisten, keine ragt aus der Gruppe heraus, auch wenn Kerans zentral ist. Die Beziehung zwischen den Figuren ist relativ uninteressant. Der Konflikt Mensch gegen Natur spielt keine Rolle. Das dystopische Narrativ ist ebenso unbedeutend wie das der Fortschrittsgläubigkeit, dem zur Folge durch technologischen Fortschritt die Katastrophe aufgehalten, vielleicht sogar umgekehrt werden kann. Am Ende dürfte durch die Arbeit der Wissenschaft wem auch immer der Verlauf des Extinktionspfades bekannt sein.

Interessant ist der Umgang mit der Zeit. Die äußere Handlung entwickelt sich entlang der traditionell definierten Zeitlinie, ohne dass Ballard Daten angibt. Auf dieser Zeitlinie ist ein Transformationsprozess zu beobachten, der ökologische, biologische und physikalische Phänomene betrifft. Wird die Apokalypse nicht reduziert auf das auslösende Ereignis, ist es nicht sinnvoll, von einem post-apokalyptischen Szenario zu sprechen, in dem sich die Menschen zurechtfinden müssen, weil dieses Szenario noch läuft.

The Drowned World ist bei seinem Erscheinen im Jahr 1962 vermutlich weder in Kategorien des Mainstreams noch der Science Fiction so etwas wie ein normaler Roman gewesen. Die Handlung spielt in einer unbestimmten Zukunft, deren technologischer Stand in etwa unserer Zeit entspricht. Es gibt eine Thompson-Maschinenpistole, Chrysler-Motoren, Ventilatoren, Vinyl-Schallplatten, tragbare Plattenspieler, einen .45er Colt, einen Messingkompass, fossile Brennstoffe, Dieselmotoren und Hubschrauber.

An manchen Stellen ist die Rede von Dingen wie einem Lösegeld des Unbewussten, einem Astronauten aus dem Universum der Seele, Zugfahrten durch Traumlandschaften, Dinge, die schon beinahe selbsterklärend sind. An wenigen Stellen finden sich zum Ausgleich Phrasen wie „die ultimative neuronale Synthese des archäopsychischen Nullpunkts“.

„Vage begriff er, dass die Lagune einen neuronalen Bedürfniskomplex repräsentierte, der anderweitig nicht zu befriedigen war.“

Die Menschen in der Lagune leiden unter Schlaflosigkeit und haben ähnliche Träume, in denen ihr Unterbewusstsein den stammesgeschichtlichen Pfad zurückverfolgt. Bodkin hält die Träume für organische Erinnerungen. Ursache hierfür könnte eine vergleichbare Entwicklung in der äußeren Welt sein. Es könnte eine Verbindung zwischen Psyche und Umwelt geben, Folge der Traumatisierung durch die Klimakatastrophe.

In Die Flut differenziert Ballard zwischen äußerem und innerem Raum. Der innere Raum erlaubt die Erkundung nicht anderer oder ferner Welten, sondern die des eigenen Bewusstseins und Verstandes, des Seelen-Raumes. Gedanken sind innere Realität, erzeugen aber die Deutungshoheit über die äußere Realität, wobei es einen Widerstreit geben kann zwischen den eigenen Gedanken und denen Dritter.

Ballard strebt keine Transparenz an, es soll nichts eindeutig klar sein. In einer Art Traumgeschehen wechselt Kerans zwischen äußerer und innerer Realität. Er durchläuft psychische Veränderungen, die im Einklang stehen mit den ökologischen Anpassungen in der Außenwelt, und er beobachtet sie mit wissenschaftlichem Interesse. Kerans sieht sie als „gewissenhafte Vorbereitung auf eine radikal neue Umgebung mit eigener innerer Landschaft und Logik, in der alte Denkmuster nur hinderlich wären“. Definiert wird sie als Rückkehr in die archäopsychische Vergangenheit.

Der innere Raum mit seiner biologischen Zeitlinie hat als eine seiner Gestaltungsgrößen die biogenetische Grundregel des Zoologen Ernst Haeckels, welche die Ontogenese als kurze schnelle Wiederholung der Phylogenese beschreibt. Die Embryonalentwicklung reflektiert im Schnelldurchlauf die stammesgeschichtliche Entwicklung. Dies ist den Menschen, wie es an einer Stelle im Roman heißt, als Zeitcodes in Chromosomen und Genen eingeschrieben, zu denen Kerans zumindest im Traumerleben eine Beziehung herstellen kann. Diese evolutive Wirklichkeit führt für Kerans zu einer völligen Neuausrichtung der Persönlichkeit, wie Bodkin einmal sagt. Zuvor geschieht dies mit Hardman, dem Helikopterpiloten. Sein Traumerleben führt dazu, dass er die Gruppe verlässt und Richtung Süden geht, in das Herz der Finsternis. Die Flut weist einen engen Bezug auf zu Joseph Conrads Herz der Finsternis, besonders in der Nebenhandlung mit Lieutenant Hardman und in dem Strangman-Strang. Der Titel der Verfilmung von Herz der Finsternis durch Francis Ford Coppola, Apocalypse Now, könnte auch als Motto Die Flut begleiten.

Das ist alles ziemlich strange und rückt den Roman als Climate Fiction in einen Zusammenhang, der aus ihm Weird Fiction macht. Am Schluss wird der Weg von Kerans als neuronale Odyssee bezeichnet, eine Entwicklung, die auch einmal das Etikett Zeitreise erhält. Kerans fühlt sich dabei wie ein Schiffbrüchiger in einem Zeitmeer.


Fazit

Heute interessiert Die Flut vor allem, weil der Roman kritisch rezipiert werden kann als ein frühes Beispiel für das Genre der Klimafiktion. Die Menschheit hat zu lange die natürliche Umwelt als Ressource zur Ausbeutung betrachtet. In Die Flut bestimmt die Umwelt das Sein und das Unterbewusstsein, bewirkt in der äußeren und inneren Realität der Figuren Wandel. Die Flut beschreibt eine Ausformung evolutiver Prozesse, die auf die Eingliederung der Menschen in die Natur zielt. Kurz erwähnt sei noch, dass der Roman im gleichen Jahr erschienen ist wie Der stumme Frühling, ein Sachbuch der Biologin Rachel Carson und in etwa ein Gründungsdokument der weltweiten Umweltbewegung.


Pro und Kontra

+ Perspektive der männlichen weißen Figuren vollzieht Pfad in den Abgrund nach
+ Tiere und Pflanzen machen den Menschen ihren Platz in Metropolen streitig
+ sehr gut lesbare Übersetzung mit nachvollziehbarer Entscheidung, bestimmte Begriffe im Original zu belassen
+ Klassiker der Climate Fiction
+ sehr eigenwillige und hochinteressante Behandlung der Frage, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.

Wertung: sterne4.5

Handlung: 4,5/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4,5/5


Rezension zu "Die Dürre"

Tags: Climate Fiction, Weird Fiction