Ein tiefer Blick in die Seele. Commissario Montalbano geht den Dingen auf den Grund (Andrea Camilleri)

Camilleri Ein tiefer Blick in die Seele

Bastei Lübbe, 2023
Originaltitel: Il metodo Catalanotti (2018)
Übersetzung von Rita Seuß und Walter Kögler
Gebunden, 300 Seiten
€ 25,00
ISBN 978-3-7857-2856-7

Genre: Kriminalroman


Rezension

Commissario Montalbanos Vize Mimì Augello stolpert über einen Toten, als er vor dem Ehemann seiner Geliebten durch die Dunkelheit einer fremden Wohnung in der Via Umberto Biancamano flieht. Wegen der heiklen Umstände kann er den Fund nicht offiziell melden, ohne Ehe und Karriere zu ruinieren, vertraut sich aber Montalbano an. Tags darauf geht ein Anruf bei der Polizei in Vigàta ein. Carmelo Catalanotti wurde tot in seiner Wohnung in der Via La Marmora aufgefunden, in der gleichen Position wie der erste Tote: Der Mann liegt ausgestreckt und komplett angezogen auf dem Bett. Aus seiner Brust ragt ein Brieföffner.

Stehen die Todesfälle in Zusammenhang? Montalbano hat eine geniale Idee, die die Polizei zur Überprüfung der Wohnung in der Via Umberto Biancamano zwingt. Doch als Mimì dort nachsieht, ist „sein“ Toter auf unerklärliche Weise verschwunden. Die Wohnung, die einem Filippo Aurisicchio gehört, ist derzeit nicht bewohnt und steht zum Verkauf. Nur der Makler, der erst in ein paar Tagen nach Vigàta zurückkommt, hat Zugriff auf die Schlüssel. Der wohlhabende Theaterliebhaber Carmelo Catalanotti, Single, ohne Familie und Freunde, gehörte zum dreiköpfigen Vorstand der Laienspielgruppe Trinacriarte. Seine Methode für die Auswahl der Schauspieler*innen war schikanös, so dass es viele Tatverdächtige gibt. Da ist es hilfreich, dass Catalanotti über alle eine Mappe angelegt hat. Nebenher verlieh Catalanotti Geld zu moderaten Wucherzinsen, und nicht alle zahlten ihre Schulden zurück.

Ein zweiter Fall beschäftigt Montalbano. Der unbescholtene Nico Licata wurde beim Verlassen seines Hauses angeschossen. Der junge Mann kann sich keinen Reim darauf machen, ebenso wenig wie seine Verlobte Margherita Lo Bello. Es zeigt sich, dass Licata einer von Catalanottis Schuldnern war. Die Ermittlungen gestalten sich schwierig bei der Unzahl an Verdächtigen, zumal Catalanotti niemanden ins Vertrauen zog. Jeden Abend verließ er das Haus. An vier Abenden waren Theaterproben, aber niemand weiß, wo und mit wem er die restlichen Abende verbrachte. Ausgerechnet sein Lieblingswirt Enzo führt Montalbano auf die Spur einer mysteriösen Blondine.

Ein tiefer Blick in die Seele ist der 26. Roman in der international erfolgreichen Serie um Commissario Salvo Montalbano aus dem sizilianischen Vigàta. Neben den Romanen gibt es noch fünf Erzählbände. Wie gewohnt thematisiert Camilleri aktuelle Probleme Siziliens, diesmal ist es die Arbeitslosigkeit. So titelt eine Zeitung, dass Sizilien die Region mit der niedrigsten Beschäftigungsrate in Europa ist: 40 Prozent. Nico Licata und Margherita Lo Bello, er Geisteswissenschaftler, sie Mathematikerin, sind Beispiele für die fehlenden Berufsperspektiven junger Akademiker*innen, die bestenfalls noch eine Hilfsarbeit finden.

Die Sternepartei will den Namen des Gründers und Komikers aus dem Logo löschen, aber in Montalbanos politischem Alptraum wird sie enden wie alle anderen, sobald sie an die Macht kommt – ein böser Traum, der beim Erscheinen des Romans Wirklichkeit geworden war. Die Polizei knüppelt auf 300 Fabrikarbeiter ein, die von heute auf morgen gefeuert wurden. Montalbano ist angewidert von Polizei, Justiz und Regierung, die ungerecht ist und nur den Mächtigen dient, und nicht zuletzt von sich selbst als Diener dieses Staates. Selbstkritisch hinterfragt er dabei auch seine eigene Rolle. Erneut zeichnet Camilleri das Bild einer Gesellschaft, deren Klima durch das Zusammenspiel der Mächtigen, die jede Verantwortung von sich weisen, zunehmend vergiftet wird.

Nicht nur das Land befindet sich im Krisenmodus, auch Montalbanos Beziehung zu seiner Dauerverlobten Livia gerät ins Schlingern, als er sich in die dreißigjährige Antonia Nicoletti, neue Leiterin der Spurensicherung, verliebt. Abgelenkt von seinen Gefühlen und der Konfrontation mit seinem Alter vernachlässigt er nicht nur Livia, sondern auch seine Arbeit und begeht ein schweres Versäumnis. Er ist nicht mehr der Regisseur seiner selbst und damit auch keine vertrauenswürdige Figur mehr. Einmal muss er sogar zugeben, sich in der Beziehung zu Antonia einiges vorgemacht zu haben. In seinem persönlichen Drama muss Montalbano tief in sich gehen, auf der Suche nach dem Unterschied zwischen authentischen und von Alterspanik bedingten konstruierten Gefühlen. Ob ihm das gelingt? Das Ende scheint mir offen.

Auch in der Kriminalhandlung geht es um Illusion und Realität, um das Theater und die umnebelte Grenze zwischen Schein und Sein. Zu Beginn setzt Camilleri dafür den Ton, wenn Mimìs Erzählung vom Fund des Toten wie ein Film vor Montalbano abläuft; zum Ende hin folgt das wie ein Theaterstück inszenierte Geständnis. Dazwischen geht es um einen Toten, den es nicht mehr gibt, um einen Mord, der keiner ist, um Theaterkulissen, die mit der Realität verwechselt werden, um einen Mann, der Menschen wie Marionetten behandelt, um Schauspieler*innen, die ihre Rolle mit der Realität verwechseln. Montalbano braucht eine Weile, bis er die beiden Theaterstücke – die um Catalanotti und Licata – durchschaut. Am Schluss aber enthüllt er ein Drama um toxische Männlichkeit und patriarchalische Monster, und selbstredend ereilt beide ein poetisch gerechtes Ende.


Fazit

Camilleri schickt den Commissario in ein Ermittlungsabenteuer, das ihn in die Welt des Theaters führt, wobei er die Leser*innen mit den seltsamen Casting-Methoden eines Mannes bekannt macht, und in die Welt von Jungakademiker*innen ohne Zukunft. Der liebesverwirrte Montalbano mag gelegentlich bei den Ermittlungen stolpern, der Theatermensch Camilleri jedoch hält alle Fäden in der Hand und orchestriert souverän die kleinen und großen Intrigen.


Pro und Kontra

+ zwei brisante, hochaktuelle Themen
+ facettenreiche Fabulierkunst, erfindungsreich, geistreich, dialogstark
+ raffiniertes Wechselspiel der Reflexionen über Wirklichkeit und Illusion und das Leben in der Blase
+ spannende Geschichte mit überraschenden Wendungen
+ ein Commissario in der Lebenskrise zwischen Übermut und Schwermut, die ihn in tragikomische Situationen bringt
+ psychologisch glaubwürdige Figuren, tiefgründig und menschlich gezeichnet

Wertung:sterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


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Tags: Andrea Camilleri, Commissario Montalbano, italienischer Kriminalroman, toxische Männlichkeit, Arbeitslosigkeit, Leben in der Blase, Lebenskrise