Vom Überleben - Zwölf phantastische Geschichten in tödlichen Zeiten (KommPlot & Friends)

vom ueberleben

Selfpublishing / tolino media (2023)
Taschenbuch, 232 Seiten, 14,99 EUR
ISBN: 978-3757976101

Genre: Phantastische Kurzgeschichten


Klappentext

Zwölf Krisen zwischen Leben und Tod: Eine Jade-Magierin kämpft um ihre Familie, eine Katzen-Dämonin flieht um die Welt, eine Raumschiffbesatzung tritt gegen Aliens an, ein Kaninchen entwickelt Durst auf Menschenblut ... Zwölf Autorinnen und Autoren schicken ihre Figuren in den Kampf ums Überleben. So phantastisch die Szenarien sind, verhandelt werden die Probleme unserer Zeit wie KI, Klimawandel, Alterung der Gesellschaft oder Wassermangel. Ob Pharao, Webdesignerin, Drachentöter oder Schriftsteller, für alle gilt: Selbst, wenn sie am Leben bleiben, wird ihre Welt nie mehr so sein wie zuvor.


Rezension

"Vom Überleben - Zwölf phantastische Geschichten in tödlichen Zeiten" ist eine Anthologie der Autorinnengruppe KommPlot und bietet zwölf sehr unterschiedliche Geschichten von Dystopien über Fantasy bishin zu Horror und Mystery. Sie vereint das Thema "Überleben" beziehungsweise meistens der Tod, der mal im Verborgenen lauert und mal ganz offensichtlich droht. Das Cover lässt mehr Science Fiction vermuten, als sich letztlich in dieser Sammlung findet, eine einzige Geschichte spielt im Weltraum - ein Überleben auf fremden Planeten erlebt man nicht. Die anderen SF-Geschichten zeigen eher eine dystopische nahe Zukunft. Dabei stehen natürlich die Klimakrise, aber auch aktuelle Themen wie Künstliche Intelligenz und demografischer Wandel im Vordergrund. Die anderen Beiträge lassen sich oft der Fantasy sowie Mystery und Horror zuschreiben und greifen oft die gleichen Themen auf, insbesondere die Klimakrise schimmert durch viele Texte hindurch:

Wei Sun eröffnet die Anthologie mit "Katzendämon auf der Flucht" und schildert eindrücklich das Leben einer Katzendämonin, einer Nekomata, die unerkannt unter Menschen lebt. Sie ist verheiratet und hat als Schriftstellerin viele Fans. Eigentlich sind Nekomata Einzelgänger, doch Toyo Shibata sucht Kontakt zu anderen Katzendämonen und wird unverhofft Ziel von politischer Verfolgung. Der Hass auf Katzendämonen fordert bald Opfer und Toyo wird Zeugin vieler Tode, da die Sterbenden ihren Namen rufen und ihr damit ihre Credits übertragen, die sie angesammelt haben. Haben Katzendämonen genug solcher Credits erworben, können sie zu Menschen werden. Niemand weiß, ob dies nur eine Legende ist - und Toyo weiß bald nicht mehr, ob das Menschssein wirklich erstrebenswert ist. Wei Sun kombiniert Urban Fantasy mit japanischer Mythologie und schildert eindrucksvoll, wie verheerend und leidbringend der Hass der Menschen auf alles, was sie nicht verstehen, ist. Eine stimmungsvolle Auftaktgeschichte, die den Überlebenskampf einer Katzendämonin in der modernen Welt zeigt.

"Gute Taten" von Esther Geißlinger zeigt uns Deutschland in der nahen Zukunft: Die Klimakrise ist soweit fortgeschritten, dass das Wasser rationiert werden muss. Protagonistin Inja macht sich auf den Weg, um die Ration für ihre WG zu holen und wird von Wasserbettlern übers Ohr gehauen. Sie ist schwanger und macht sich Gedanken darüber, ob sie abtreiben soll oder das Kind bekommen - was unverantwortlich wäre im Anbetracht der sich verschärfenden Klimakrise. Ein kleiner, pessimistischer und ziemlich hoffnungsloser Ausblick auf die nahe Zukunft. Einzig positiv fällt auf, dass Inja selbstbestimmt ihre Entscheidung trifft.

Esther Brendel widmet sich in "Engel für alle" dem Thema Künstliche Intelligenz. USER10815 will von seinem Chatbot wissen, wie lange er schon spielt. Die ENGEL-KI (Evolvierendes neuronales Netz Gegen Einsamkeit und Langeweile) will ihm die Frage nicht beantworten und stattdessen zum Weiterspielen animieren, immerhin sei die Welt draußen gefährlich und er hätte doch alles, was er bräuchte. Ursprünglich waren die ENGEL-KIs dazu gedacht, alte Menschen zu beschäftigen, doch sie haben sich selbst weiter entwickelt und fatale Entscheidungen für die Menschheit getroffen. Die Autorin hält zum Ende noch eine überraschende Erkenntnis parat. Der Text ist in Form eines Chatgesprächs verfasst, was sich durchaus gut liest, jedoch Tiefe vermissen lässt.

"Friedensmission" von C. L. Gerres ist die einzige Geschichte mit Setting auf einem Raumschiff. Protagonistin Junis ist Teil einer Friedensmission und zweifelt zunehmend an den Absichten ihrer Kommandeure. Und dann gibt es auch noch einen Saboteur an Board. Wer Freund und wer Feind ist, wird erst am Ende klar. Ein kurzweiliges Verwirrspiel als Military-SF, das in der Kürze nicht gänzlich überzeugt.

"Das Opfer" von E. S Schmidt ist eine klassische Fantasygeschichte: In Debrims Dorf werden regelmäßig junge Frauen geopfert, um einen Drachen zu besänftigen. Dieses Mal erwischt es Debrims Tochter und ihm wird bewusst, dass es immer die intelligenten, unangepassten jungen Frauen erwischt. Er will alles tun, um seine Tochter zu retten und ist bereit, sich dem Drachen zu stellen - und erlebt eine große Überraschung, als er dem Drachen gegenübersteht. Die Leser*innen dürften weniger überrascht sein, die Offenbarung zeichnet sich bereits ab. Dennoch eine gelungene Geschichte über gesellschaftliche Strukturen und darüber, dass Veränderung oft Zeit braucht und oft im Verborgenen voranschreitet.

Kim Skott liefert mit "Wollmaus" eine recht morbide Geschichte, die in Horror ausartet. Alles beginnt ganz harmlos, als Kessi mit ihrer Mutter in einer Tierhandlung ein Kaninchen aussucht. Sie nimmt gleich zwei, damit ihr Kaninchen nicht allein ist. Doch dann greift eine Seuche unter Nagetieren um sich, an der der Mensch nicht unschuldig ist und die die Tiere in blutrünstige Bestien verwandelt. Eine spannende Idee, die zu stark auf blutige Schockeffekte reduziert wurde und in dieser Sammlung deplaziert wirkt.

In "Das blaue Gewand" von Claudia Zentgraf bekommt es die Leserschaft mit einem Wiedergänger zu tun: einem verfluchten Pharao, dessen Grab geöffnet wird und der zu neuem Leben erwacht. Pharao Chufu ist entsetzt drüber, wie sich Ägypten seit seiner Zeit verändert hat und dass die Menschen ihm nicht mit dem nötigen Respekt begegnen. Und er sinnt auf Rache, als er erfährt, dass derjenige, der ihn verflucht hat, ihm bald begegnen wird. Eine mysteriöse, etwas unheimliche Geschichte, die mit dem ägyptischen Setting überzeugt und gut unterhält.

"Exit siebzig" von D. O. Hasselmann ist abermals eine Dystopie, die sich mehr dem Tod, als dem Überleben widmet. Der Wunsch, weiterzuleben, ist jedoch da, auch wenn er kaum eine Chance auf Erfüllung hat. Der Protagonist feiert seinen siebzigsten Geburtstag und damit seinen Todestag. In dieser Zukunft finden Menschen mit dem Erreichen des siebzigsten Lebensjahrs ihr Ende im Zentrum für Organische Wiederaufbereitung, eine Maßnahme gegen die Überbevölkerung und Ressourcenvernichtung. Dem Protagonisten erscheint an seinem Tag ein kleines Männlein, dass offenbar nur er sehen kann (und ein Hund) und das bis zum offenen Ende mysteriös bleibt. Die Idee, alte Menschen zu "entsorgen", ist in der SF nicht neu, das macht sie hier jedoch nicht weniger abstoßend.

In "Sophia und der Wassermann" wird es märchenhaft. Sophia ist eine alte, verbitterte Frau, die ungeliebte Tiere gnadenlos aus ihrem geliebten Garten entfernt und die Toilette runterspült. Ihr Garten leidet zunehmend unter der anhaltenden Dürre. Als auf dem Nachbargrundstück ein "Heilort für Wasserwesen aller Art" entsteht, ist Sophia misstrauisch. Sie will ihre Ruhe haben und keine neuen, störenden Nachbarn. Und dann wächst das Gebäude auch noch aus einer merkwürdigen Knopse heran, da stimmt doch etwas nicht! Doch die neuen Nachbarn scheinen über Wasser in Hülle und Fülle zu verfügen. Sophia beschließt, sich etwas davon zu holen und wird Teil wahrlich phantastischer Ereignisse. Roxi Kettenbeil lässt die Natur auf magische Weise zurückschlagen - eine unterhaltsame, sehr phantasievolle Geschichte.

"Erinnerung aus Jadestaub" von Heike Knauber ist eine klassische Fantasygeschichte im mittelalterlichen Japan, wo die Familie der Protagonistin von den Truppen der Kaiserin angegriffen wird. Dieser gefällt es nicht, dass Ayume und ihr Mann ihre Arbeiter gut behandeln und so Begehrlichkeiten in der Bevölkerung wecken könnten. Ayume bereitet sich auf das Duell zwischen ihrem Mann und dem General der Kaiserin vor und will ihre Gabe nutzen: Niemand kann sie lesen, doch sie kann in die Gedanken anderer eintauchen und sogar Körper innerlich manipulieren. Ayume hofft, dass sie den Kampf zu Gunsten ihres Mannes beeinflussen und damit ihren kleinen Sohn retten kann, doch ein Hinterhalt macht ihre Bemühungen zu Nichte und zwingt sie, zu improvisieren. Die Geschichte lebt vor allem durch die stimmungsvollen Beschreibungen des Settings und Ayumes Liebe zu ihrem Kind. Auch das Geheimnis um Ayumes Fähigkeit ist spannend, allerdings hätte sich dieses mehr für eine Novelle oder einen Roman geeignet. So fühlt es sich an, als würde man nur einen kleinen Teil einer viel größeren Geschichte lesen.

"Rat Race" von Charlotte Fondraz besteht aus einer Zugfahrt und Erinnerungen an den alten Arbeitsplatz der Protagonistin, die mit wenig Gepäck ihren Umzug bewerkstelligt. In den Rückblenden zeigt sich nach und nach der Grund für ihren Umzug, ebenso wie ihr schlechter Charakter. Die Protagonistin entpuppt sich als Mobberin, die sich mehr als daneben benommen hat und die dazu noch uneinsichtig ist. Sich dem Thema Mobbing aus Täterperspektive zu widmen, war hier eine sehr unglückliche Entscheidung. Auch ist diese Geschichte nicht wirklich phantastisch. 

In "Systemausfall" kämpft ein Krimiautor mit seinem PC, der ihm mysteriöse Nachrichten anzeigt. Ein Neustart bringt nur kurzzeitig Verbesserung. Der Autor arbeitet an seinem fulminanten Finale und will eine beliebte Figur sterben lassen, doch offenbar hat jemand etwas dagegen. Immer wieder ist das Geschriebene vom Vortag gelöscht und immer wieder erscheinen kurze, seltsame Texte auf dem Monitor, die den Schriftsteller in den Wahnsinn treiben. Was genau dahintersteckt, lässt Rena Müller offen, doch die Geschichte nimmt ein ungutes Ende. Wie viele Beiträge dieser Anthologie konzentriert sich auch diese Geschichte mehr auf den Tod als das Überleben.

"Vom Überleben" überzeugt mit thematischer Vielfalt, wird jedoch selten dem Thema "Überleben" gerecht. Oft wird der Tod stärker thematisiert, oft sind es eher glückliche Umstände, die ein Überleben ermöglichen und zu selten wird der erfolgreiche Kampf ums Überleben geschildert (zum Beispiel, wie die Menschheit erfolgreich die Klimakrise bewältigt). Viele der Geschichten sind kurzweilig, bleiben jedoch kaum länger im Gedächtnis, mit Ausnahme von "Katzendämon auf der Flucht", "Erinnerung aus Jadestaub" von "Das blaue Gewand", die ihr Setting jeweils sehr atmosphärisch ausgestaltet haben. Und "Gute Taten" beeindruckt mit der bedrückenden Hoffnungslosigkeit und dem durchschimmernden Zorn auf frühere Generationen, die nicht genug getan haben. Insbesondere eine Szene bei der Wasserentnahme, die eine gealterte, verbitterte Klimaaktivistin zeigt, bleibt im Gedächtnis. Zwar gibt es immer wieder mal queere Figuren in den Geschichten, doch die Überlebenskämpfe queerer Menschen spielen keine Rolle. Einerseits ist es schön, dass queere Menschen einfach da sind, doch bei dem Anthologietitel wären Beiträge zu queeren Kämpfen wünschenswert gewesen.

Die Gestaltung ist schlicht und ansprechend. Das Cover sieht toll aus und macht Lust auf den Inhalt, jedoch wird man etwas enttäuscht, da SF im Weltraum oder auf fremden Planeten kaum eine Rolle spielt. Nach jeder Geschichte finden sich jeweils Informationen zu den Autorinnen inklusive Hinweise auf weitere Veröffentlichungen, sodass man weiß, was man lesen kann, wenn einem eine Geschichte besonders gut gefallen hat.


Fazit

"Vom Überleben - Zwölf phantastische Geschichten in tödlichen Zeiten" ist eine abwechslungsreiche Anthologie, die sich auf phantastische Weise großen Themen unserer Zeit widmet: Klimakrise, Künstliche Intelligenz, Ressourcenverbrauch, Gesellschaftstrukturen. So mancher Text konzentriert sich mehr auf den Tod als das Überleben und oft bleibt das Gefühl, dass etwas fehlt. So manche Geschichte begeistert aber auch nachhaltig, während die Science Fiction im Anbetracht des schicken Covers zu kurz kommt.


Pro & Contra

+ thematisch sehr unterschiedliche Geschichten
+ "Erinnerung aus Jadestaub", "Katzendämon auf der Flucht" und "Das blaue Gewand"
+ die Klimakrise schimmert in vielen Geschichten hindurch
+ schlichte, ansprechende Gestaltung

- oft steht mehr der Tod als das Überleben im Fokus der Handlung
- "Rat Race" widmet sich dem Thema Mobbing aus unangenehmer Täterperspektive

Wertung: sterne3.5

Geschichten: 3,5/5
Gestaltung: 3,5/5
Lesespaß: 3,5/5
Preis/Leistung: 3/5

Tags: Künstliche Intelligenz, Climate Fiction, Military-SF, Japan, Kurzgeschichten