Allwissend (Jeffery Deaver)

Verlag: Blanvalet, Februar 2010
Originaltitel: Roadside Crosses
übersetzt von Thomas Haufschild
Hardcover, 544 Seiten, € 21,95
ISBN: 978-3764503369

Genre: Thriller


Klappentext

Nachts auf einem Parkplatz überfällt ein Unbekannter eine Schülerin und sperrt sie in den Kofferraum eines Autos. Er stellt das Fahrzeug am Strand ab, wo das Mädchen in der steigenden Flut ertrinken soll. Nur durch Zufall wird die Entführte rechtzeitig entdeckt und kommt mit dem Leben davon. Erste polizeiliche Ermittlungen ergeben, wie akribisch der Täter – der offensichtlich von der starken Klaustrophobie des Mädchens wusste – die Tat inszeniert hat: Unter anderem stellte er bereits vor der Tat ein Gedenkkreuz mit dem Datum des nächsten Tages am Straßenrand auf – dem Todesdatum seines Opfers, wenn alles nach Plan verlaufen wäre. Kathryn Dance nimmt schon bald den Hauptverdächtigen ins Visier: Travis, ein verhasster Mitschüler des Mädchens, soll die Tat begangen haben, in einem Blog im Internet wird er deswegen bereits offen als der Gedenkkreuzmörder gebrandmarkt; die Hetzjagd auf ihn ist eröffnet. Da verschwindet Travis plötzlich – bewaffnet mit einer Pistole. Ab jetzt scheint jeder in Gefahr zu sein, der den jungen Mann je beleidigt oder im Internet angegriffen hat. Kathryn Dance bleiben nur wenige Stunden, um eine weitere Bluttat zu verhindern.


Der Autor

Jeffery Deaver hat sich nach dem ersten großen Erfolg als Schriftsteller aus seinem Beruf als Rechtsanwalt zurückgezogen und lebt nun abwechseln in Virginia und Kalifornien. Seine Bücher werden in fünfundzwanzig Sprachen übersetzt und haben ihm bereits zahlreiche renommierte Auszeichnungen eingetragen. Mit den Romanen um seine neue charismatische Serienheldin Kathryn Dance stürmt Jeffery deaver die internationalen Bestsellerlisten.


Rezension

Wissen wir eigentlich um die Allmacht des Internets? Ist uns bewusst, was eine vielleicht unbedachte Äußerung in den Tiefen des World Wide Web für Wellen nach sich ziehen kann? Der Stille Post Effekt ist enorm – und ein Opfer hat kaum eine Chance auf glaubwürdige Gegendarstellung. Jeffery Deaver widmet sich diesmal in gewohnter Manier dem Internet, speziell den Bloggern. Erstaunlich, wie ein Blog sich verselbstständigen kann, sich an Nebensächlichkeiten hochschaukelt, bis seine letzten Eintragungen mit dem Eingangsposting nichts mehr gemeinsam haben. Schmähungen, Beleidigungen und Diffamierungen können hier ungestraft losgelassen werden, man ist ja anonym im Netz, denn die Serverbetreiber halten schützend ihre Hände über Mitgliederdaten; sie pochen auf ihre Schweigepflicht, ähnlich wie bei Ärzten oder Rechtsanwälten. Oder verrät man gar selber seine Identität, indem man trotz eines Nicknamens durch unbeabsichtigte Äußerungen viel zu viel von seiner eigenen Person preisgibt? Das Web ist tief, dunkel und skurril, Anonymität schützt vor Strafe nicht, auch hier muss man sich an Regeln halten.

Kathryn Dance beschäftigen drei Fälle gleichzeitig. Daniel Pell, der Hauptverdächtige aus dem letzen Buch „Die Menschenleserin“, steht vor Gericht. Doch es gibt Schwierigkeiten, und seine Taten beschäftigen Dance auch noch in diesem Buch. Außerdem wird ihrer Mutter Sterbehilfe bei Juan Millar, einem jungen Polizeibeamten, vorgeworfen und sie wird verhaftet. Dann tauchen die seltsamen Kreuze am Wegesrand auf, die aktuelle oder zukünftige Daten aufweisen. Kreuze am Wegesrand sind ein gewohntes Bild, als Mahnmal oder Erinnerung an einen tödlichen Unfall werden sie aufgestellt. Wer allerdings schaut schon genau auf diese Daten? Das erste Opfer hat Glück und wird in letzter Sekunde gefunden, bevor es ertrinken sollte. Bei Recherchen zu ihrem Hintergrund entdecken die Ermittler den Chilton Report, einen Blog, den Jim Chilton ins Leben gerufen hat. Als Journalist deckt er Missstände auf, die er in seinem Blog anprangert. Manchmal entwickeln die Blogs allerdings eine ganz eigene Dynamik, so auch dieser Blog, in dem Tammy, das erste Opfer, gepostet hat. Eigentlich handelte er vom schlechten Zustand des Highways, aber ein Unfall mit zwei jugendlichen Todesopfern erregt die Gemüter. Der Name des Unfallfahrers wird bedenkenlos bekannt gegeben, zwar offiziell wieder entfernt, aber durch Beschreibungen ist offensichtlich, wer gemeint ist. Travis Brigham wird zum Sündenbock, nicht nur im Web darf auf ihn eingeprügelt werden. Erschreckend, wie schnell sich hier Meinungen bilden und Menschen verurteilt werden, die Informationen werden als wahr hingenommen, ohne hinterfragt zu werden. Nach einem ersten kurzen Verhör mit Travis kann dieser fliehen und trotz intensiver Fahndung nicht aufgestöbert. Alle Personen, die sich negativ über Travis geäußert haben, werden gewarnt, trotzdem tauchen schon bald neue Opfer auf.

Ein Täter, schon ganz am Anfang bekannt? Deaver wäre nicht Deaver, wenn er nicht noch so einige Wendungen im Petto hätte. Auf seine unnachahmliche Art schafft er es, Zweifel zu säen und wirklich jeden Charakter verdächtig erscheinen zu lassen. Bis zum Schluß hinterfragt man jede Handlung, ein typisches Deaver Phänomen. Wobei es dem Leser diesmal nicht sehr leicht gemacht wird, denn die Handlung ist langatmig konstruiert. Ausführliche Ausflüge in die Geschichte des Blogs und des Internets sind zwar ganz interessant, bauen aber keine Spannung auf. Viele neue Namen verwirren und die nebeneinander laufenden Ermittlungen von älteren Fällen flachen den Spannungsbogen gehörig ab. Deaver hat sich hier etwas verzettelt, man muss „Die Menschenleserin“ zwar nicht zwingend gelesen haben, aber hilfreich ist es auf jeden Fall, da oft auf zurückliegende Ereignisse zugegriffen wird.

Ein bisschen mehr erfährt man wieder über Kathryn Dances Privatleben, wohldosiert und zur Geschichte passend. Mit Jonathan Boling, einem sympathischen Professor Mitte Vierzig, der Kathryn und ihr Team in IT-Fragen tatkräftig unterstützt, hat Deaver einen neuen Charakter eingeführt, der erfrischend realistisch, intelligent und mit einer gehörigen Portion Humor ausgestattet ist. Der faszinierendste Charakter ist allerdings Travis, anfangs als Loser und Täter abgestempelt, erfährt man im Laufe der Geschichte seine Vielschichtigkeit, erst als Dance seinen Charakter in einem Online Rollenspiel genauer unter die Lupe nimmt, erkennt sie sein wahres Gesicht. Leider gerät in diesem Buch die Kinesik ins Hintertreffen, die Gewichtung liegt eindeutig bei der Macht der Blogs, der freien Meinungsäußerung und der Eigendynamik im Internet. Außerdem geht es um höchst umstrittene Rollenspiele, die völlig neue Suchterkrankungen und Abhängigkeiten auslösen. Sehr viel Wissenswertes ist hier enthalten, Deaver versteht es ausgezeichnet, Fragen nach Moral und Vernunft aufzuwerfen und allen Argumenten Platz zu geben, ohne zu verurteilen oder Stellung zu beziehen.

Der englische Originaltitel hätte mal wieder viel besser gepasst, das Cover ist sehr stimmig und geschmackvoll. Es spiegelt eindrucksvoll die Einsamkeit eines Menschen wieder, der von seiner Umwelt abgeurteilt wird, nur weil er ein bisschen anders ist.


Fazit

Ein Thriller auf der Höhe der Zeit – Leetschrift, Onlinespiele, Webblogs – leider etwas langatmig, aber sehr informativ. Die Fälle stehen diesmal nicht so sehr im Vordergrund, es ist mehr ein Endringen in die Jugendwelt von heute. Deaver lässt den Leser mehr als einmal atemlos zurück und macht ihm bewusst, wie gefährlich die Welt des WWW sein kann. Datenmissbrauch, Diffamierungen und eine neue synthetische Welt, in die Menschen allen Alters und sozialem Status fliehen, um der eigenen, trostlosen Wirklichkeit, zu entkommen, sind die Hauptthemen. Das Thema Sterbehilfe wird in einer Nebenhandlung durchleuchtet. Nichts ist so, wie es scheint, und jedes Statement im Netz ist lediglich eine subjektive Meinungsäußerung, die von einem einzigen verfasst wird.


Pro und Contra

+ Wissenswertes über die Welt der Blogs und Onlinespiele
+ interessanter Plot mit hochbrisanten Themen
+ beliebte Hauptcharaktere
+ neue vielschichtige Charaktere

- etwas langatmig
- zuviel Verzettelung in Nebenhandlungen

Wertung:

Handlung:3,5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 3,5/5
Preis/Leistung: 3,5/5


Literatopia-Links zu weiteren Titeln von Jeffery Deaver:

Rezension zu Die Menschenleserin
Rezension zu Todesreigen
Rezension zu Der Täuscher
Rezension zu Der Knochenjäger
Rezension zu James Bond – Carte Blanche
Rezension zu Wahllos