Sonne wie Winter (Matthias B. Krause)

UBooks (Oktober 2009)
Taschenbuch, 176 Seiten, 9,95 EUR
ISBN 978-3-86608-117-8

Genre: I-Pop


Klappentext

Warum Tom eines Morgens plötzlich in den Flieger nach Ust-Kamenogorsk steigt, wissen wir nicht – und er weiß es genauso wenig.
Doch auch ohne die Sprache der Kasachen zu sprechen findet er Freunde: den Kommissar, den Arzt, und natürlich ist da noch Irina. In einem Land, das er nicht versteht, in dem jeder und alles ihm fremd ist, wo die Plattenbauten wie Felsen aus dem Boden ragen, kann Tom endlich freier atmen.

„Jetzt habe ich es kapiert: Es geht nicht um Fortschritt. Es geht nicht um eine Erfahrung. Nein. Es geht in jedem einzelnen Moment einfach nur darum, in genau diesem Moment das Richtige zu tun.“


Rezension

Tom taumelt gut angetrunken auf seiner Geburtstags-WG-Party herum und findet an all der studentischen Fröhlichkeit und Andersartigkeit keinen Gefallen mehr. Wie durch milchiges Glas hindurch beobachtet er seine Kommilitonen, steht hier und da bei einer Gruppe und trinkt immer mehr. Als eine attraktive Bekannte mit ihm ins Bett will, tut er zunächst nur, was man eben in so einer Situation tut – und verbockt es schließlich mit einem ungehemmten Lachkrampf. Doch es ist kein freudiges Lachen, nicht einmal ein spöttisches. Tom ist ziemlich fertig, mit seinem Studium, der Welt und mit sich selbst. Wie in Trance macht er sich auf die Suche nach Tobias, der sich inzwischen mit der von Tom abgewiesenen jungen Dame vergnügt. Er fragt ihn nach diesem Kaff in Kasachstan, Tobias hatte von einer Sprachreise erzählt. Ob man ihm da eine Wohnung besorgen könne. Und schon findet sich Tom in Urs-Kamenogorsk wieder. Mit seinem kleinen Erbe im Koffer wartet er am Flughafen auf die Sprachlehrerin, die ihn zu seiner Wohnung bringen soll. Stattdessen kommt ihre Schwester Irina irgendwann, mit der Tom in den nächsten Wochen viel trinkt und die restliche Zeit im Bett verbringt …

„Heute gucke ich durch das vereiste Fenster auf den meterhohen Schnee. Aber das muss nichts heißen, gestern war immerhin noch Sommer. Manchmal ist Irina da, manchmal nicht. Manchmal ist eben Sommer, manchmal ist eben Winter. Die Tage kleben nicht mehr zusammen, sie sind auseinandergebrochen. Jeder Tag steht für sich. Jeder Tag ein Leben. Wer weiß, welche Jahreszeit morgen sein wird.“ (Seite 26)

Im Wesentlichen liest sich „Sonne wie Winter“ wie eine Art Tagebuch, das mehr oder weniger lange Abschnitte enthält. Der Storyaufbau gestaltet sich dabei relativ ungewöhnlich. Manche Kapitel bestehen aus nicht einmal einer halben Seite, in der der Protagonist seine Tage mit „Trinken, Sex, Schlafen“ kurz schildert. Andere Kapitel erstrecken sich über mehrere Seiten, aber viel mehr scheint in Kasachstan trotzdem nicht zu passieren. Bis Tom den Arzt und den Kommissar kennenlernt. Man erfährt zwar nie ihre Namen – diese kennt der Protagonist wohl selbst nicht – aber die beiden Männer werden zu Freunden. Ohne großartige Bemühungen, alle entwickelt sich einfach so. Auch Irina bleibt einfach so bei Tom, die beiden kommunizieren höchstens nonverbal. Es erscheint dem Leser zwar etwas unglaubwürdig, dass Tom auch nach Wochen immer noch kein Wort russisch spricht, aber so umnachtet wie der junge Mann wirkt, macht man sich darüber keine großen Gedanken. Genauso macht sich Tom kaum Gedanken und genießt das Nichtverstehen. Er geht ins Kino und stellt fest, dass die Schauspieler eigentlich gut spielen und dass nur der Mist, den sie reden müssen, sie so blöd aussehen lässt. Er schaut sich Komödien an und lacht mit – auch dabei versteht er nichts, amüsiert sich aber über die seltsamen Gesichtsausdrücke. Immerhin sprechen der Arzt und der Kommissar ein wenig Deutsch, so kommt man auch ab und an in den Genuss von Dialogen. Insgesamt bleiben die Nebencharaktere jedoch etwas zu blass. Das Mag an Toms alkoholvernebelter Sicht liegen, dennoch hätte man von den anderen Persönlichkeiten gerne etwas mehr gesehen.

Zum übermäßigen Alkoholkonsum kommen im Laufe des Romans noch andere Laster hinzu. Was Tom da in Kasachstan treibt, wirkt im höchsten Maße sinnlos und dumm. Doch was ihn an der studentischen Gesellschaft in Deutschland so sehr ermüdete, ja regelrecht ankotzt, wird selbst studentischen Lesern verständlich. Toms Reaktion auf den Erwartungsdruck – wie man sein soll, was man leisten muss – besteht aus Flucht. Dass es ihn beinahe ans andere Ende der Welt verschlägt, ist schlichtweg Zufall. Doch gerade zwischen den grauen Plattenbauten Kasachstans findet er irgendwie etwas, das an Glück und Zufriedenheit herankommt. Ab und an hat der Roman große Momente, die zum Nachdenken anregen – in denen auch der Protagonist nachdenkt und sein Innenleben offenlegt. In denen er dem Leser mehr oder weniger bewusst die Gründe für seine Flucht erklärt und die Frage nach dem, was im Leben eigentlich wichtig ist, aufwirft. Ein „literarisches Roadmovie“ ist es nicht unbedingt, auch wenn es Fahrten durchs Land und Flüge gibt. Die meiste Zeit verbringt Tom in seiner spärlich eingerichteten Wohnung. Dabei verliert er nahezu sein Zeitgefühl. Sommer, Herbst, Winter, Frühling. Heute Schnee, Morgen Sonne. „Sonne wie Winter“. Toms deformiertes Zeiterleben gibt dem Roman einen treffenden und interessanten Titel.

Der Roman ist durchgängig aus Toms Sicht geschrieben, die Sprache gestaltet sich dabei relativ einfach. Hier und da blitzen originelle Formulierungen und philosophische Grübeleien hindurch. Andere Stellen sind eher vulgär und schmucklos. Matthias B. Krause schreibt hundert Prozent so, wie man es dem Protagonisten zutraut. Dabei werden eben auch Geschmacksgrenzen ausgereizt. Im Kontext des Romans bleibt er jedoch sprachloch glaubwürdig. Leider ist die Geschichte an für sich, vor allem anfangs, für ein ganzes Buch etwas wenig – nicht nur von der Seitenzahl her. Zwar kommt sie unkonventionell und dadurch abgedreht und interessant daher, aber man hätte sich trotz der „nihilistischen“ Züge doch etwas mehr Inhalt gewünscht. Und dafür ein bisschen weniger Sauferei und Co. Natürlich macht dieses schlicht ungesunde Leben viel von der Atmosphäre des Romans aus, aber es gibt viele Stellen, die mehr zeigen – und die es öfter hätte geben dürfen. Nichtsdestotrotz bleibt „Sonne wie Winter“ ein wunderbar offener, schonungsloser Roman. Die depressiven Verstimmungen und die persönliche Entwicklung des Protagonisten werden glaubhaft vermittelt und für den Leser greifbar. Ohne romantisch angehauchte Melancholie, sondern nur mit der tristen Realität ausgewachsener Sinnlosigkeit. Daneben gibt es jedoch auch durch und durch reale Gefühle, auch positive, die Tom nach und nach entdeckt, in seinem müden Denken jedoch nur langsam begreift.

Wer gerne abseits des Mainstreams schwimmt und die ungeschmückte Packung mit ungewollter Selbstfindung sucht, ist hier bestens bedient. Hier und da erscheint „Sonne wie Winter“ noch nicht ganz ausgereift, doch der Autor schreibt einen herrlich direkten Stil, der obendrein im Einklang mit dem Wesen des Protagonisten ist. Man kauft diesem Buch jedes Wort ab – was man davon halten mag, ist eine andere Sache. Und nicht jeder hat ein kleines Erbe, mit dessen Hilfe er sich ins Nirgendwo absetzen kann und die Kohle langsam versaufen, weil Wodka ohnehin spottbillig in diesem fremden Land ist. Auch über das richtig oder falsch mag man sich streiten – Tom tut jedenfalls für sich das Richtige. Und als Leser wird man nach der Lektüre nachdenken, was für einen selbst das Richtige ist. Ob man es zwingend suchen muss oder es einfach auf sich zukommen lassen soll. Insgesamt also ein Roman, über den man auch danach noch nachdenkt.


Fazit

„Sonne wie Winter“ ist ein sinnlos sinnvoller Roman mit schmuckloser Tiefe. Hier und da etwas vulgär, insgesamt herrlich ungeschönt und ab und an geradezu philosophisch. Man muss hinter die bloßen Worte blicken – doch es lohnt sich!


Pro & Contra

+ sehr eigen und ungeschönt
+ glaubhafte Entwicklung des Protagonisten
+ passender, schmuckloser Stil
+ nachdenkliche Momente

o stellenweise etwas vulgär

- Nebencharaktere bleiben etwas blass
- anfangs zu wenig Inhalt

Wertung:

Handlung: 3,5/5
Charaktere: 3/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5