Deutscher Buchpreis für Melinda Nadj Abonji

Die Preisträgerin war perplex: "Dass ich so was mal bekomme!" Die Entscheidung, den sehr europäischen Roman "Tauben fliegen auf" von Melinda Nadj Abonji zum Buch des Jahres zu küren, befreit die wichtigste Literaturauszeichnung Deutschlands von ihrer staatstragenden Aura.

Die Preisträgerin kreischte, küsste einen Herrn in der in Reihe vor ihr ganz heftig auf beide Wangen, kam auf die Bühne und sagte schließlich etwas in einer Sprache, die im Saal wohl fast keiner verstand. Es dürfte Ungarisch gewesen sein. Melinda Nadj Abonji entstammt der ungarischen Minderheit in der serbischen Region Vojvodina. Seit ihrem fünften Lebensjahr lebt sie in der Schweiz, in ihren Roman "Tauben fliegen auf" erzählt die 42-Jährige die Geschichte einer Familie, die aus Jugoslawien nach Zürich zieht, und so auch eine Geschichte von Migration und Integration, vom Krieg, vom Zerfall der alten Heimat und von den Schwierigkeiten, eine neue zu finden - erschienen ist das Buch bei einem österreichischen Verlag. Am 04.10. wurde Melinda Nadj Abonji dafür in Frankfurt am Main mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet.

Eine der vielen Stärken von Literatur ist, dass sie die Grenzen von Zeit und Raum überwindet, und damit eben auch die von Staaten. Es war also höchste Zeit, den Deutschen Buchpreis von der nationalen, staatstragenden Aura zu befreien, die ihn zunehmend umgeben hatte. Von Arno Geigers "Es geht uns gut" bis Uwe Tellkamps "Turm" - den Buchpreis bekamen in den mittlerweile fünf Jahren seines Bestehens fast immer diejenigen Romane, die sich mit deutschen Befindlichkeiten, mit der deutschen Geschichte befassten.

Auch 2010 wurde das Feld der sechs Shortlist-Kandidaten, aus dem die Jury schließlich den Siegeritel auwählte, zumindest in der medialen Wahrnehmung angeführt von einem Buch, in dem sich ein persönliches Schicksal mit dem des Landes verband: Peter Wawerzineks autobiografischem Roman "Rabenliebe". Der passte so gut ins Jahr des Wiedervereinigungsjubiläums, dass er es gar als Seitenaufmacher in die "Bild"-Zeitung brachte, samt Riesenschlagzeile: "Diese Mutter floh aus der DDR und ließ ihre kleinen Kinder fast verhungern." Wawerzineks von heftigstem Sprachrasseln getragene Prosa allerdings ist stilistisch geradezu old school gegen Melinda Nadj Abonjis zumindest zu Beginn des Buchs regelrecht jugendlich vergnügten Ton: "Zur Mittagszeit also fahren wir ein, recken unsere Hälse, um zu sehen, ob alles da ist, ob noch alles so ist, wie im letzten Sommer."

Roman ohne Rummel

Gottfried Honnefelder, Chef des Börsenvereins der Deutschen Buchhandels, war die Begrüßung des Preisverleihungspublikums im Kaisersaal des Frankfurter Römers fast defensiv angegangen: "Trotz aller Risiken muss es den innovativen, riskanten Preis geben." Es war ja nicht nur Wawerzinek, der leer ausging, sondern auch Judith Zander mit ihrem wunderbaren, ebenfalls in Ostdeutschland spielenden Roman "Dinge, die wir heute sagten"; Doron Rabinovici mit dem intelligent konstruierten und äußerst lustigen "Andernorts", außerdem Jan Faktor und Thomas Lehr, zu dessen "September. Fata Morgana" sich in den vergangen Tagen noch beinahe alle Großkritiker des Landes geäußert hatten.


Abonji, von deren "eigener und äußerst lebendiger Stimme" Honnefelder in seiner Laudatio schwärmte, konnte auf derartigen Rummel nicht zählen. Sie spielte vor der Preisverleihung im Literaturbetrieb nur eine untergeordnete Rolle. Sie ist als Slampoetin aufgetreteten, hat mit einem Rapper zusammen gearbeitet, eine CD, und gerade noch einen einzigen weiteren Roman veröffentlicht. Mit dem Buchpreis, so Abonji in Frankfurt, habe sie nie gerechnet: "Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass ich so was mal bekomme. Meine Stimme zittert."

Sie dürfte nicht allein stehen mit ihrer Verblüffung. Womöglich war die Jury ja selbst überrascht von ihrem eigenen Mut - anders lässt Honnefelders Hinweis auf "Risiken" kaum erklären. Stilistisch riskant allerdings ist "Tauben fliegen auf" kaum. Abonjis Sprache ist rhythmisch, musikalisch - aber doch auch ziemlich geradlinig und damit nicht weniger massentauglich als die Buchpreisträger zuvor.

Vergleicht man "Tauben fliegen auf" allerdings mit den anderen Romanen der Shortlist, wird man feststellen, dass in keinem anderen soviel von der europäischen Realität des Jahres 2010 steckt. Mit Melinda Nadj Abonj hat der Deutsche Buchpreis nicht nur die deutschen Grenzen überwunden - er ist in der Gegenwart angekommen.


Quelle: spiegel.de