Die Kinder von Wien (Robert Neumann)

Eichborn Verlag (Die Andere Bibliothek) 2008
234 Seiten, gebunden
ISBN 979-3-8218-6200-2
Preis: € 30,00 (D)

Genre: Belletristik

 

Rezension

Im Winter 1945/46 lebt, versteckt in einem Keller im Nachkriegswien, zwischen Bombentrichtern und Trümmerchaos, Wanzen und Leichen, eine bunt zusammengeworfener Haufen Kinder: Der gerissene 13-jährige Jid aus dem KZ, der 14-jährige Goy, ehemaliger Werwolf, der 7-jährige Curls, Besitzer der Kellerruine, die 15-jährige Ewa aus Polen, die sich prostituiert und die ihre Freundin Ate, ehemalige Jungmädelführerin beim BDM, zu Besuch mitbringt und das Kindl, ein winziges Mädchen aus dem Lager, um das sich alle kümmern.

Auf diese ungewaschene Schar von ausgehungerten Dieben, Hehlern und Huren trifft durch Zufall Reverend Smith, ein schwarzer Geistlicher der US Armee, der mit Traktaten in der Tasche ins besetzte Europa gekommen ist und niemals erwartet hat, was er hier antrifft: Oben auf der Straße die verzweifelten Erwachsenen und hier unten die überlebenden Kinder, die "nur Dreck" sind, "Abschaum", der gelernt hat, mit dem Recht des Stärkeren umzugehen, irgendwie durchzukommen.

Die Neuauflage der Übersetzung, die Neumann in den Monaten vor seinem Tod selbst angefertigt hat: Eine Mischung aus Jiddisch, Rotwelsch, American Slang, Deutsch und Russisch, die die zerrissene Zusammengehörigkeit der Kinder der Nachkriegszeit weiter verdeutlicht, denen der Krieg und der Nationalsozialismus die Kindheit und die Sprache genommen hat, die mit bedrückendem Gleichmut dem Überleben (im Lager und jetzt, nach dem Krieg) und somit auch dem Sterben der Nichtüberlebenden gegenüber stehen, ohne zu beschuldigen.

1946 auf Englisch als Hilferuf im Namen der Kinder an die alliierten Siegermächte geschrieben, schafft es das Werk auch heute noch, ein bedrückendes, erschütterndes Bild der unmittelbaren Nachkriegszeit zu zeichnen, die Ruinen zu verdeutlichen, die nach dem Krieg übrig blieben, das seltsame Weitermachen nach Verrat und Mord, wenn sich Opfer und Täter, ehemalige SS-Männer und KZ-Überlebende plötzlich wieder gegenüber stehen. Trotz des holprigen Stils, der die Geschichte gleichsam überall und nirgendwo im besetzten Europa ansiedelt, des "schlechten Deutschs" leicht, schnell zu lesen; es zieht einen direkt weiter - gerade durch den Stil authentisch.

Fazit

Ein bedrückendes, atmosphärisches Buch, verzerrt und zerrissen und doch vielleicht gerade dadurch allgemeiner gültig. Ein Buch über das Danach der Schwächsten, die zwischen der absoluten Verzweiflung der Erwachsenen zu anspruchslosen Überlebenskünstlern geworden sind. Keine Beschreibung von überstandenen Gräuel oder der Lebensgeschichte der Kinder; es ist eher die Gleichmütigkeit, mit der das Jetzt hingenommen wird, die das Ganze zu keiner leichten Kost macht. Wirklich lesenswert.

Extras

Das gesamte Buch ist sehr aufwändig und schön gearbeitet, das Papier hat hohe Qualität. Als Teil der Reihe "Die Andere Bibliothek" ist jedes Buch eigens nummeriert. Hinter den Buchdeckeln sind vorne und hinten auf fünf Seiten schwarz-weiß Fotos des zerbombten Nachkriegswiens und seiner Kinder abgebildet. Mit Zeichenband, einem Vorwort des Autors und einem interessanten Nachwort von Ulrich Weinzierl.

 

Bewertung

Handlung:5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5