Im Zeichen der Weide (Sharon Shinn)


Wilhelm Heyne Verlag, München 1997
223 Seiten
ISBN 3-453-11944-4
Fantasy



Staubige Gemäuer

Bis zum Zeitpunkt seiner Ankunft in der Stadt hatte Aubrey keine Ahnung gehabt, daß sich der große Zauberer eine Frau genommen hatte. Er war gekommen, um bei dem Gestaltwandler zu studieren. Während er in der warmen, düsteren Schenke im Herzen der Stadt (genaugesagt war es nur eine kleine Gemeinde, eher ein Dorf) ein Bier trank, kam er zu der Ansicht, daß das nichts ausmachte, so oder so. Dennoch war er überrascht. Nach allem, was Cyril ihm erzählt hatte, schien Glyrenden kein Mann zu sein, der den zärtlicheren Leidenschaften zugeneigt war. Aber andererseits war es offenkundig, daß Cyril den Hofmagier nicht mochte, und vielleicht waren seine unschmeichelhaften Worte auf eine berufliche Eifersucht zurückzuführen.

- aus dem Beginn des Romans

Aubrey irrt: Die Tatsache, dass Glyrenden nicht mehr alleine lebt, verändert alles für ihn, und nicht alle Abneigung gegen den Gestaltwandler lassen sich mit beruflicher Eifersucht erklären.
Seine Ankunft in dessen Haus lässt ihn auf drei seltsame Gestalten treffen – die Bediensteten Arachne und Orion, die äußerst eigenartige Verhaltensweisen an den Tag legen, sowie die unnahbare, smaragdäugige Lilith, die Gemahlin des Gestaltwandlers. Zunächst nur nach dem Wissen hungernd, das ihm sein neuer Lehrmeister vermittelt, nimmt Aubreys Faszination für Lilith in dessen Abwesenheit immer mehr zu – und nach und nach beginnt er zu ahnen, dass sich hinter der heruntergekommenen Fassade des Anwesens ein Geheimnis von dunkler Grausamkeit verbirgt ...

Wenn es keine Elben, Zwerge, Drachen und Orks braucht

Fantasy, dieses Stichwort mag für manche schon an Reiz verloren haben nach all den ewiggleichen Geschichten, die es für sich beanspruchen. Fantastische Kreaturen, epische Kämpfe, klar strukturiert das Verhältnis zwischen Gut und Böse und nicht selten ist es eine ganze Welt, deren Rettung in den Händen eines einzigen Helden und dessen Mitstreiter liegt. Doch all diese klassischen Zutaten sind nicht notwendig, wie Sharon Shinn beweist. Ohne ein einziges Mal in Pathos und heroische Allüren abzugleiten, erzählt sie eine Geschichte, die im Grunde nur eine kleine Gruppe von Menschen betrifft; es ist nicht das Schicksal aller, das geschützt werden muss – und gerade darin liegt die Stärke des Romans. Durch die Konzentration auf ein begrenztes Umfeld gewinnt die Stimmung an Dichte und Realität.

Fantasy mit Bodenhaftung

Mögen die ersten Seiten auch noch wenig überzeugend sein, gelingt es Shinn schnell, den Leser ganz in der Atmosphäre der Zeilen gefangen zu nehmen. Mit einfachen Worten lässt sie ihn die verschmutzten Zimmer betreten, den Wald durchwandern, das Dorf erforschen und es gelingt ihr, die Sinneseindrücke tatsächlich nahezu fühlbar zu vermitteln. Trotz der Tatsache, dass die Magie als einziges wirklich phantastisches Element natürlich eine Rolle zu spielen hat, bleibt der Roman gewissermaßen „geerdet“ und jederzeit glaubwürdig. Es ist eine faszinierende Erfahrung, ohne großartige Erklärungen und Weltentwürfe so ganz und gar in dieses Milieu eintauchen zu können. Auch die Figurengestaltung bleibt in sich schlüssig, selbst die beiden anfangs sehr skurril wirkenden Bediensteten gewinnen an Überzeugungskraft. Dass dies bei Orion stärker der Fall ist als bei Arachne, rechtfertigt sich mit einer überraschenden Wendung, die den Leser gerade dadurch zu verblüffen vermag, dass sie viele scheinbar nebensächliche Details an Bedeutung gewinnen lässt und sich absolut schlüssig in die Handlung fügt. Einzig das sehr klassische Finale trübt das Gesamtbild ein wenig. Bei all der aufgebauten Spannung hätte es ein wenig mehr Platz und Kraft verdient.

Fazit

Zugegeben, das Cover hätte mich trotz der Empfehlungen beinahe abgeschreckt, und lange kam ich aus Desinteresse nicht über die erste Seite hinaus. Doch wer weiterliest, sich auf das Buch einlässt, den erwartet erfrischend schnörkellose Fantasy – keine spektakulären Schlachten, keine verkrampft neuartigen Wesen, sondern Authentizität; sowohl die Charaktere als auch die Welt und die phantastischen Elemente betreffend. Trotz – oder wegen? – des Verzichtes auf Knalleffekte und nervenaufreibende Dramen gelingt es Shinn, die Handlung spannend zu halten und den Leser bis zum Ende ganz in den Bann der Geschichte zu ziehen. Vielleicht wäre der Epilog nicht mehr notwendig gewesen, doch im Grunde überlässt er es dem Leser selbst, welches Ende nun tatsächlich das end-gültige ist und bleibt.
Glaubwürdige, gelungene Fantasy. Für alle, die sich nicht vor Schlichtheit scheuen: Lesenswert!


Pro und Contra:

+ Überzeugende Handlung mit einer überraschenden Auflösung
+ Authentizität in allen Aspekten
+ Gelungene Charaktergestaltung
+ Sprachlich, stilistisch und atmosphärisch erfrischend zu lesen

o Keine „Knalleffekte“

- Covergestaltung wird dem Inhalt nicht gerecht
- Finale ein wenig knapp abgehandelt
- Epilog ein Stück weit inkonsequent und nicht unbedingt notwendig

Bewertung:

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 5/5



Anmerkung: Preis / Leistung wird hier nicht berücksichtig, da der Roman im Moment vergriffen ist. Wann eine Neuauflage erscheint, wissen wir noch nicht. Das Buch kann man jedoch gebraucht oder auch mit Glück als Restposten erwerben.