Zweimal langsamer wie du ... (Dieter Rieken)

Cover Zwei Mal langsamer wie du ...

p. machinery (März 2024)
Paperback, 148 Seiten, 14,90 EUR
ISBN 978 3 95765 379 6
E-Book: ISBN 978 3 95765 730 5, 4,99 EUR

Genre: Science Fiction / Climate Fiction / Dystopie


Klappentext

In der Titelgeschichte dieser Sammlung flieht Kirstin Tammen nach Italien, weil sie es nicht mehr erträgt, zu Hause in Deutschland jeden Tag mit neuen Tragödien konfrontiert zu sein. Doch auch in dem Ferienhaus ihrer Kindheit gelingt es ihr nicht, die brutalen Folgen des fortschreitenden Klimawandels zu ignorieren – und die nächste Katastrophe kündigt sich schon an.
»Jonas und der Held Terranovas« überträgt die Motive der biblischen Geschichte des Propheten Jona auf eine ferne Koloniewelt. Über die Frage, wie die kleine Gemeinschaft ihre internen Konflikte um das Verbot des Reisanbaus lösen soll, gerät der allseits verehrte »Captain« mit den Autoritäten seiner Welt in Streit. Als er kurz vor dem Gründungsfest das Weite sucht, beauftragt der Rat Terranovas seine beste Ermittlerin, ihn zurückzubringen. Doch nach einem Sturm auf hoher See gilt der alte Mann als vermisst.
In »Die Schneekönigin« muss Linnea, die mitten in einer Eiswüste lebt, sich und ihren kranken Freund gegen marodierende Banden verteidigen.


Rezension

"Zweimal langsamer wie du ..." enthält zwei Novellen und eine Kurzgeschichte von Dieter Rieken, der die Zukunft hier mehr oder weniger düster zeichnet und vor katastrophalen Entwicklungen warnt. Doch inmitten der Dystopie findet sich auch immer wieder ein (großer) Funken Hoffnung:

"Zweimal langsamer wie du ..."

Die Titelstory ist eine Ergänzung zu Riekens Debütroman "Land unter", in dem die Klimakrise Deutschland sehr verändert und den Norden unter Wasser gesetzt hat. "Zweimal langsamer wie du ..." spielt einige Jahre später und lässt sich relativ gut ohne Vorkenntnisse lesen, doch wer den Roman kennt, wird mehr Freude mit den Figuren haben und viele Verbindungen zum Buch entdecken. Protagonistin ist dieses Mal Tine, eine der Nebenfiguren aus "Land unter", die in ihrem Ferienhaus in Italien zur Ruhe kommen will. Es fällt ihr jedoch nicht leicht, abzuschalten, zumal in der Heimat eine schlimme Sturmflut droht und im Süden Italiens verheerende Waldbrände wüten. Doch die Katastrophe ist in der Zukunft Alltag und Tine schottet sich von der Welt ab, um ihren Urlaub genießen zu können. Entsprechend reagiert sie nicht, als der Strom ausfällt, das passiert schließlich häufiger. Auch die Durchsagen mit dem Lautsprecherwagen alarmieren sie nicht, schließlich stehen Wahlen an und da rührt wohl jemand kräftig die Werbetrommel. Als sie bemerkt, dass etwas nicht stimmt, ist es fast zu spät ...

"Zweimal langsamer wie du ..." ist eine überwiegend ruhige Geschichte, die sich dem Alltag inmitten der eskalierenden Klimakrise widmet und von ihrer dichten Atmosphäre lebt. Nicht alles ist schlecht in dieser Zukunft, die Menschen versuchen, sich anzupassen und mit dem häufigen Extremwetter zu leben. Während italienische Küstenstädte langsam im Meer versinken, verlagert sich der Tourismus in die höher gelegenen Gebiete. Ferienhäuser werden von Flüchtlingen bewohnt. Das Leben geht weiter. Dieter Rieken erzählt von verschiedenen Anpassungsmaßnahmen wie gepflanzten Bäumen, die in den Dürren der letzten Jahre dahingerafft wurden, und kleinen elektrischen Leihwagen, die Jahrzehnte früher hätten verbreitet sein müssen, um noch etwas auszurichten. Seine Zukunftsvision steckt voller Details, die ein vielschichtiges, beklemmendes und teilweise hoffnungsvolles Bild zeichnen. Tine geht mit der Klimakrise pragmatisch um, sie hat schon öfter alles zurücklassen und neu anfangen müssen. Natürlich macht sie sich trotzdem Sorgen, als ihr Mann sie anruft und von der drohenden Flut erzählt, doch sie weiß auch, dass er weiß, was zu tun ist, und dass sie alles wieder aufbauen werden. Oder woanders von vorne anfangen.

Doch gerade weil Tine so pragmatisch und Katastrophen gewohnt ist, wundert man sich, warum sie so gar nicht darauf kommt, was ihr in Italien droht. Während die Leser*innen längst ahnen, dass die Situation brenzlig wird, streicht Tine gemütlich ihr Ferienhaus. Sie ignoriert alle Alarmzeichen und die Erklärungen dafür wirken etwas zu bemüht. Auch als es nahezu offensichtlich ist, wundert sich Tine nur. Doch dann schaltet sie nach einem merkwürdigen Traum irritierend schnell um. Erfreulich ist das Wiedersehen mit Warner (wer "Land unter" nicht kennt, lernt ihn erst jetzt kennen), der einige Jahre im Gefängnis verbracht hat, weil er Nazis gejagt und ermordet hat. So sehr man seine Taten nachvollziehen kann, so fragt man sich doch wie Tine, ob die Morde gerechtfertigt waren - ob Mord jemals gerechtfertigt sein kann. Eine Regierung aus Populisten und Rechtsextremisten hat in Deutschland viel Schaden angerichtet, doch die meisten Menschen haben ihren Fehler erkannt. Dieter Rieken gelingt es hier, auf wenigen Seiten komplexe politische Verhältnisse darzustellen und so gruselig manche Entwicklungen sind, so hoffnungsvoll stimmen andere.

"Jonas und der Held Terranovas"

Die zweite Novelle spielt in fernerer Zukunft auf einem erdähnlichen Planeten, der von Menschen kolonisiert wurde. Ein einziges Schiff hat es ins Tau-Ceti-System geschafft und eine kleine Gruppe Menschen hat eine neue Gesellschaft gegründet, die auf den Werten von Fleiß und Disziplin aufbaut. Ihr Held, der Captain des Raumschiffes, weilt nach 150 Jahren immer noch unter ihnen, da er sich regelmäßig für lange Zeit in Stase begibt und nur zu wichtigen Anlässen aufwacht und zu den Menschen spricht. Doch dieses Mal ergreift er die Flucht kurz nach dem Aufwachen und Ermittlerin Yuma soll den alten Soldaten finden und zurückbringen. Jonas reist zusammen mit dem Captain über das Meer und schätzt seine Fähigkeiten sehr, doch er hält ihn auch für einen autoritären Sturkopf, der notwendige Veränderungen ablehnt ... 

Auch diese Novelle lebt von ihrer Atmosphäre. Terranova, so nennen die Menschen das Land, das sie besiedeln, ist von Ozeanen umgeben, in denen es vor Leben nur so wimmelt. Das Land ist jedoch karg und trinkbares Wasser kostbar. In Peredais, das die Bewohner Stadt nennen, jedoch eher ein Dorf ist, leistet jeder Gemeinschaftsdienste neben seinem eigentlichen Beruf. Beispielsweise muss jeder helfen, die Ernte einzubringen, die überwiegend aus Kartoffeln besteht. Passend zu den überwiegend deutschstämmigen Siedlern. Zwar sind nicht nur Europäer nach Tau Ceti gereist, doch die Gemeinschaft ist am aufflammenden Rassismus zerbrochen und die Menschen mit astiaschen Vorfahren haben eine eigene Stadt gegründet. Vorurteile und Katastrophen wie eine Epidemie haben alte Ressentiments geweckt und zu einer Spaltung der jungen Gesellschaft geführt.

Mit Jonas und dem Captain hat die Geschichte zwei spannende Figuren, die beide die Besiedlung Terranovas von Anfang an begleitet haben, allerdings sehr unterschiedliche gesellschaftspolitische Positionen vertreten. Während Jonas den stärker werdenden Rassimus und die zunehmend autoritären Strukturen kritisiert, sind dem Captain die Menschen nicht diszipliniert genug. Er wirkt dabei wie ein alter, verbitterter Mann, dem es nicht passt, dass die Welt sich weiterdreht. Jonas ist offener, allerdings auch zurückhaltender und ängstlicher. Seine Ansichten sind progressiv, doch ihm fehlt der Mut, für sie einzustehen. Als dritte Perspektive erleben wir die von Yuma, einer selbstbewussten jungen Frau, die ihre Tätigkeit beim Ordnungsdienst mit Herzblut ausfüllt und die Werte ihrer Gemeinschaft verinnerlicht hat. Doch sie ist auch offen für andere Sichtweisen und findet für sich im Verlauf der Handlung neue Überzeugungen. 

Spannend ist zudem der Bezug zum biblischen Jonas, der im Bauch eines Walfisches landet. Auch der Jonas dieser Geschichte wird während seiner Reise verschlungen, allerdings von einer gigantischen, fremdartigen Meereskreatur. Während Jonas sich verzweifelt in das Gewebe des Wesens krallt und mit dem Leben abgeschlossen hat, ist der Captain entschlossen, einen Weg hinaus zu finden. Zwischen Jonas und dem Captain gibt es eine interessante Verbindung, die für viele Leser*innen eine Überraschung bieten dürfte. Wer genau aufpasst, kann jedoch erahnen, was die beiden Männer verbindet. Selbst wenn man es ahnt, ist die Auflösung gelungen und nachdem man sich auf Terranova eingelebt hat, folgen spannende Details aus dem langen Flug zu dem fernen Planeten. Und über das Schicksal der Erde.

Übrigens: Wer aufmerksam gelesen hat, wird entdecken, dass "Zweimal langsamer wie du ..." und "Jonas und der Held Terranovas" in der gleichen Zukunftsvision zu unterschiedlichen Zeiten spielen.

"Die Schneekönigin"

Bei der dritten Geschichte dieser Sammlung handelt es sich um eine recht klassische SF-Kurzgeschichte mit dystopischem Setting. Ein gewaltiger Vulkanausbruch läutet den Beginn einer neuen Eiszeit ein, woraufhin auf der nördlichen Hemisphäre ganze Gesellschaften zusammenbrechen. Auch in Island herrscht Chaos, Flüchtlinge versuchen, die Insel zu verlassen und in den Süden zu gelangen. In Reykjavik gilt das Recht des Stärkeren, es wird geplündert und gemordet. Linnea und ihr Freund Grendel versuchen ihr Glück im Norden Islands, abseits der Flüchtlingsströme und Schlepperkriminalität. Sie hoffen darauf, in der Nähe eines Geysirs, der sie mit warmem Wasser versorgt, das Chaos aussitzen zu können. Doch in ihrer kleinen Hütte wird es zunehmend kälter und Grendel ist krank. Linnea klammert sich verzweifelt an die Hoffnung, dass doch noch alles gut ausgeht, als ausgehungerte Gestalten ihre kleine Hütte angreifen ...

"Die Schneekönigin" ist die überarbeitete Version einer Geschichte, die Dieter Rieken bereits in den 1980ern geschrieben, später überarbeitet und 2021 in "Überlebensprogramm" veröffentlicht hat. Damals war Grendel der Protagonist und die Story dürfte so manches Klischee enthalten haben. Die Entscheidung, die Story nochmals zu überarbeiten und Linnea zur Protagonistin zu machen, fühlt sich genau richtig an. Sie ist eine starke Persönlichkeit, die den widrigen Bedingungen trotzt und tut, was nötig ist. Auch wenn das bedeutet, Menschen zu töten, um ihr eigenes Leben zu schützen. Ihre Zukunft ist eine grausame, in der es um das nackte Überleben geht, und lange scheint es, als hätte Linnea mit der Idee, im Norden Zuflucht zu suchen, ihr Schicksal besiegelt. Doch manchmal ist ein vermeintlich unmöglicher Weg vielleicht doch der richtige. Auch diese Geschichte hat eine dichte Atmosphäre - die klirrende Kälte ist durch Riekens Worte hindurch zu spüren. 

*

Passend zu den jeweiligen Texten enthält das Taschenbuch einige Illustrationen/Fotocollagen des Autors, die erfreulicherweise in Farbe gedruckt wurden. In einem recht ausführlichen Nachwort geht Dieter Rieken auf die Entstehung und Hintergründe der einzelnen Texte ein.

"Gestatten sie mir noch ein Eingeständnis: Ich liebe meine Figuren. Ich mag sie inklusive all ihrer Fehler und Schwächen. Und die, für die ich am besten Willen keine Sympathie aufbringen kann, versuche ich zumindest, mit Respekt zu behandeln - indem ich mir einerseits Mühe gebe, sie zu verstehen, und sie andererseits kritisiere, wo sie es meiner Meinung nach verdient haben." (Seite 146)


Fazit

"Zweimal langsamer wie du ..." ist eine kleine Storysammlung mit einer sehr guten und zwei guten SF-Geschichten, die einen Blick auf mögliche Zukünfte zwischen eskalierender Klimakrise, der Besiedlung ferner Planeten und einer neuen Eiszeit werfen. Während auf der Erde der Kollaps bevorsteht, bietet Terranova einen Neubeginn, der von alten Ressentiments überschattet wird. Riekens Geschichten sind jeweils sehr atmosphärisch, überzeugen mit vielen Details und erzählen von vielschichtigen Figuren, die auf unterschiedliche Weise den Widrigkeiten ihrer Zeit begegnen.


Pro & Contra

+ Urlaub inmitten der Klimakatastrophe
+ komplexer Entwurf einer Kolonie auf einem fernen Planeten
+ sehr unterschiedliche Figuren mit Stärken und Schwächen
+ jeweils dichte Atmosphäre
+ viele spannende Details, die die Zukunftsvisionen immersiv machen
+ düster und zugleich hoffnungsvoll
+ farbige Illustrationen des Autors

o Vorkenntnisse aus "Land unter" erhöhen den Lesespaß in "Zweimal langsamer wie du ..."

- nicht nachvollziehbar, dass Tine alle Warnungen ignoriert

Wertung: sterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4/5


Interview mit Dieter Rieken (2020)

Rezension zu "Land unter"

Tags: Climate Fiction, Winter, Dieter Rieken, Eiszeit, fremde Planeten