Etomi - Erwachen (Jol Rosenberg)

etomi erwachen

Plan 9 (2023)
Paperback, 400 Seiten, 20,00 EUR
ISBN  978-3-948700-83-6

Genre: Science Fiction / Dystopie


Klappentext

Erde, 24. Jahrhundert: Aufgrund von Wirbelstürmen und Dürre ist für Menschen das Leben im Freien nicht mehr möglich. In der Kuppelstadt Eos wird der Hochglanz-Alltag von einer künstlichen Intelligenz gesteuert. Als diese Leas Tod beschließt, wagt Lea das Undenkbare: Sie flieht aus Eos und sucht nach dem mythischen Etomi, wo sie die Antwort auf all ihre Fragen erhofft.

Doch die Welt außerhalb der Kuppel ist nicht so leer wie erwartet, und dort gibt es nicht nur Antworten, sondern vor allem neue Fragen.


Rezension

"Die Große Mutter ist Eos. Sie umfängt Eos und sie hält euch, versorgt euch, weiß um euch. Die Große Mutter macht keine Fehler. Sie hat den großen Plan im Blick ..." (Seite 16)

Lea des Bodyness liebt ihre Arbeit als Tattoodesignerin und sie liebt das Leben, das bald enden soll. Ihr Ausstand steht bevor. Obwohl sie gesund ist, hat sie mit Mitte vierzig die maximale Lebenszeit in Eos erreicht und so wie sie für die Gemeinschaft gelebt hat, soll sie nun für die Gemeinschaft sterben. Doch Lea weigert sich, dieses Schicksal zu akzeptieren, und flüchtet aus der Kuppelstadt, in der die Große Mutter - eine Künstliche Intelligenz - für alle sorgt und über Leben und Tod entscheidet. Draußen will Lea nach Etomi suchen, einem Ort, an dem die Menschen länger leben dürfen und den sie sich wie ein Paradies vorstellt. Doch statt nach draußen gelangt Lea auf ihrer Flucht in einen Schlachthof, in dem Klone stoisch ihre grausame Arbeit verrichten. Einer der Klone hilft ihr und bringt sie nach Aranus 3beta, einem der Versorgungsquadranten in der Peripherie von Eos. Zu Leas Erstaunen leben hier Menschen, die jedoch ganz anders sind als sie: größer, hässlicher und viele von ihnen älter als sie! Doch dies ist nicht Etomi, wie sie es sich vorgestellt hat. Aranus ist eine laute, schmutzige Welt voller Verteilungskämpfe und je mehr Lea davon sieht, desto bewusster wird ihr, was für eine künstliche, glitzernde und doch unmenschliche Welt Eos war ...

"Erwachen" ist der erste Band der Dilogie "Etomi" und beginnt in der Kuppelstadt Eos, die sehr sauber, sehr bunt und hochtechnisiert ist. Lea führt dort ihr Leben ganz im Sinne der Großen Mutter, der Zentralintelligenz, die religiös verehrt wird und die die Bewohner*innen von Eos überwacht und kontrolliert. Die Menschen in Eos sind relativ klein, alle schlank und gesund und in Arbeitsgemeinschaften integriert, deren Namen sie tragen. Die Kinder wachsen in der Obhut der Großen Mutter auf und werden von Robotern versorgt, ehe sie in die Gemeinschaft eingeführt werden. Die persönlichen Assistenten in ihren Datenarmreifen sorgen für ihr Wohlergehen, sie sagen ihnen, was sie essen sollen, wann und wie viel sie schlafen sollen, welchen Sport sie treiben sollen, was sie in verschiedenen Situationen sagen sollen und welcher Beruf und welcher Partner*innen am besten zu ihnen passen. Mit Hilfe von Medikamenten und Drogen werden unangenehme Erregungszustände korrigiert und eine Maximierung des Wohlbefindens angestrebt. Lea hat in Eos ein oberflächlich wunderbares Leben, doch das Gefühl, dass etwas falsch ist, wird immer stärker. Schließlich wird ihr bewusst, dass die Große Mutter sie töten wird und sie nicht bereit dafür ist. Sie will weiterleben und verlässt ihre vermeintlich perfekte Heimat.

Auf die Menschen in Aranus wirkt Lea seltsam und naiv. Alles, was sie gelernt hat, was sie kann, ist in Aranus nichts wert. Für die Menschen hier ist sie ein kleiner, bunt tätowierter Mensch, der nicht anpacken kann und nichts vom Leben versteht. Lea hat jedoch Glück und wird von der Ingenieurin Bora und dem Arzt Nelson aufgenommen. Sie geben ihr eine Arbeit und helfen ihr, in der für sie ungewohnten Umgebung zurechtzukommen. Dabei verzweifeln sie so manches Mal an Leas Naivität, es gibt viele Missverständnisse und schließlich zieht Lea weiter, um Etomi zu suchen. Doch je weiter sie geht, desto unerreichbarer wird Etomi. Lea lebt eine Zeit mit einem anderen Bewohner von Eos zusammen, Ruben, der mit ihr zusammen geflüchtet ist. Während Lea Glück hatte und Menschen getroffen hat, die ihr wirklich geholfen haben, ist Ruben an Leute geraten, die ihn ausnutzen und in ihre kriminellen Machenschaften verwickeln. Lea lässt sich ebenfalls in diese hineinziehen, ihr ist einfach nicht bewusst, was sie da eigentlich tut, und man will sich beim Lesen die Haare raufen, weil sie so naiv ist. Naiv für Aranus, doch sie ist eben auch genau das, was Eos aus ihr gemacht hat.

Jol Rosenberg lässt in Leas Person zwei sehr unterschiedliche Welten aufeinanderprallen. Während Eos ein schillerndes Hightech-Paradies ist, ist Aranus eine dreckige Hölle, in der sich die Menschen abmühen, um irgendwie zu überleben. Aranus hält Eos jedoch am Leben und beide sind Teil von Araneos, einer riesigen, überdachten Anlage, in der die Menschen schon so lange leben, dass sie sich an das Davor und das Draußen nicht mehr erinnern. In Aranus sind die verschiedenen Quadranten mehr oder weniger strikt voneinander getrennt, in manchen Bereichen kommt man besser über die Runden als in anderen, doch nahezu überall mangelt es an ausreichend Nahrung und die hygienischen Verhältnisse sind oft katastrophal. Es leben einfach zu viele Menschen auf zu wenig Raum und der ganze Komplex steht kurz vor dem Zusammenbruch, während die Zentralintelligenz den Großteil der Ressourcen für die künstliche Welt von Eos abzieht. Araneos wird damit zur Metapher für den ausufernden Kapitalismus, in dem sehr wenige über nahezu alle Ressourcen verfügen, während anderen immer weniger zum Leben bleibt.

Lea war äußerst privilegiert, auch wenn ihr das nicht bewusst war. Es hat ihr nie an Nahrung, Wärme und Sicherheit gemangelt, ihr ganzes Leben konnte sie allein der Verbesserung ihres Lebens widmen. Allerdings hat sie dabei auch viel Druck erfahren, denn in Eos gibt es ein Sozialpunktesystem und viele gesellschaftliche Regeln, die den Menschen in Aranus und auch den Leser*innen seltsam oder gar lächerlich erscheinen. Lea hat gelernt, immer höflich zu sein, immer zu lächeln, ihre eigenen Emotionen zu regulieren und anderen Freude zu bereiten. Damit kann man sie in Aranus perfekt ausnutzen. Zu ihrem Glück findet sie in Aranus echte Freunde, die sie vor dem Schlimmsten bewahren - und die sie dafür in Schwierigkeiten bringt. Es ist nicht leicht, die Machtstrukturen im chaotischen Aranus zu überblicken, denn hier haben sogenannte Alphas das Sagen, welche widerum Anweisungen von der Zentralintelligenz erhalten. Die "Große Mutter" herrscht also auch über Aranus, aber die Menschen hier umsorgt sie nicht wie die Menschen in Eos, sie sind nur Werkzeuge, die der Erhaltung von Eos dienen. Man könnte von Entmenschlichung sprechen, doch eigentlich entmenschlicht die Zentralintelligenz die Menschen in Eos, die nicht wissen, was Familie ist, nicht wissen, wie Menschen abseits von oberflächlichlicher Freundlichkeit füreinander einstehen und Verbindungen eingehen können. Sie leben nach den Regeln ihrer künstlichen Welt und wissen nichts davon, was Menschsein bedeutet. 

Wie auch Jol Rosenbergs Debütroman "Das Geflecht - An der Grenze" ist "Etomi - Erwachen" trotz dramatischer Ereignisse kein emotional mitreißender Roman. Die Erzählweise ist eher distanziert, dennoch sind Gedanken und Gefühle der Protagonist*innen stets nachvollziehbar - vor allem aber werden Leser*innen zum Nachdenken angeregt. Zum Beispiel darüber, wie stark alles miteinander verflochten ist und wie stark unterschiedliche Umgebungen Menschen prägen. Lea und die Menschen aus Aranus kommen aus verschiedenen Welten und können einander oft nicht verstehen. Umso schöner ist es, zu beobachten, wie Brücken gebaut werden und wie viel man mit Empathie und Geduld erreichen kann. Umgekehrt gibt es natürlich viele negative Erlebnisse. Auch denkt man im Verlauf der Handlung viel über den Begriff der Freiheit nach. Ein Begriff, der nicht für alle das Gleiche bedeutet. Auch ist Freiheit nicht automatisch hergestellt, wenn man jemanden befreit. "Etomi - Erwachen" ist mit dieser nachdenklichen Erzählweise ein Buch, das nach dem Lesen nachhallt, auch weil die Geschichte noch nicht zu Ende ist. "Etomi - Aufbruch" könnte wie auch der erste Band einige Überraschungen bereithalten.

 "Die ZI ist keine Göttin. Sie ist ein System, (...) das sich aus irgendeinem Grund jeden Tag wieder neu entscheidet, eine ungerechtfertigt große Menge an Ressourcen einer verschwinden kleinen Zahl von Menschen zukommen zu lassen, die für dieses Privileg nicht das Geringste getan haben." (Seite 354)


Fazit

In "Etomi - Erwachen" prallen zwei völlig unterschiedliche Welten mit jeweils eigenen Regeln aufeinander, die dennoch eng miteinander verwoben und voneinander abhängig sind. Verbunden sind beide durch eine Künstliche Intelligenz, die ein ungerechtes System geschaffen hat, in dem wenige extrem privilegiert sind und viele ausgebeutet werden. Protagonistin Lea flüchtet aus dem vermeintlichen Paradies, das ihren Tod vorgesehen hat, und entdeckt in der chaotischen und dreckigen Welt außerhalb Empathie und Menschlichkeit. Ein vielschichtiger, komplexer Roman, der Raum für eigene Gedanken lässt und neugierig auf seine Fortsetzung macht.


Pro & Contra

+ Eos und Aranus sind zwei völlig unterschiedliche, miteinander verbundene Welten
+ Lea ist durch und durch ein Kind von Eos und ist gezwungen, sich weiterzuentwickeln
+ eher ruhige, nachdenkliche Erzählweise
+ komplexe Handlung mit Überraschungen
+ unterschiedliche Perspektiven auf die alles kontrollierende Künstliche Intelligenz
+ spannendes Worldbuilding, in dem viel Wissen verloren gegangen ist
+ diverse Figuren mit unterschiedlichen Geschlechtern und teils Behinderungen
+ Glossar im Anhang mit den wichtigsten Begriffen

- von Eos sieht man insgesamt zu wenig

Wertungsterne4.5

Handlung: 4,5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4/5


Interview mit Jol Rosenberg (2022)

Rezension zu "Das Geflecht - An der Grenze"

Tags: Künstliche Intelligenz, queere Figuren, nicht-binäre Autor*innen, deutschsprachige SF, Jol Rosenberg