Eridanus (September 2024)
Paperback, 400 Seiten, 16,00 EUR
ISBN: 978-3946348450
Genre: Science Fantasy / New Weird / Space Opera / Steampunk
Klappentext
Glauben Sie mir, diese Meere sind tief. Niemand hat jemals herausgefunden wie tief. Vielleicht ist das auch das Geheimnis dieses Ortes. Die Meere haben hier einfach keinen Grund, sondern führen nur in immer fernere Welten und Zeiten. Unfassbarer, gefährlicher und dunkler als alles, was wir mit unserem kleinen Geist erfassen können. Wenn wir sehr viel Glück haben, dann begegnen wir dort unten in den Abgründen der Finsternis dem Göttlichen. Wenn wir Pech haben, finden wir das Böse - und es wird unser eigenes Gesicht tragen.
Rezension
“Ich brauche keinen Helden und keine Priesterin. Ich brauche jemanden, der sehen kann. Alle Seiten (…) Ich brauche jemanden, der sich selbst sein größter Feind ist, denn solche Menschen wissen, wie sie das Dunkel im Geist ihrer Gegner finden.“ (Seite 212/213)
Britannien herrscht über die Erde und unterhält diverse Kolonien auf fernen Planeten, um seinen immensen Rohstoffhunger zu befriedigen. Ein weit entfernter Wasserplanet wurde aus unerfindlichen Gründen vergessen, obwohl er über eine überaus wertvolle Ressource verfügt: Wale, die einer transdimensionalen Spezies angehören und deren Knochen essentiell für die magische Technologie des Kaiserreichs sind. Nun wurde der Planet wiederentdeckt: eine paradiesische, tödliche Welt, beschützt von einer mysteriösen Göttin und bewohnt von Menschen, die im steten Kampf um Leben und Tod ihren Frieden gefunden haben. Die Inquisition beißt sich die Zähne an diesem sturen Volk aus, einem Matriarchat, das dem Militär immer einen Schritt voraus zu sein scheint …
Christine Langley besucht als junge Frau erstmals den Wasserplaneten und freundet sich mit Aven an, der ihr Natur und Kultur näherbringt und ihr eine vollkommen andere Art zu leben zeigt. Als Tochter eines Botschafters wurde Christine am Hof des Kaisers ausgebildet und ist all der Rituale und der irrsinnigen Religion überdrüssig. Gemeinsam mit Aven entdeckt sie eine Welt, die zugleich wunderschön und verdammt gefährlich ist. Nahezu jedes Tier könnte sie umbringen, zumal die Fauna des Planeten oftmals gigantisch ist. Nach einem schweren Verlust verlässt Christine den Planeten und tritt ins Militär ein, wo sie sich als eine der Besten und Verbissensten erweist. Sie erduldet Demütigungen und Verletzungen, um ihre ganz eigene Mission zu erfüllen und überrascht ihre Verbündeten und Gegner. Vor allem aber erschüttert die die Leserschaft.
“Was soll das heißen, dich hat niemand gelehrt? Du hast doch Augen im Kopf und einen Verstand zum Denken, sollte man zumindest meinen. Wenn du darauf wartest, dass dich jemand lehrt, kannst du es genauso gut sein lassen.“ (Seite 84)
Auch Aven hat eine Mission: Er will der Göttin dienen – was ihm als Mann nicht erlaubt ist. Auf seiner Welt sind ausschließlich Frauen Priesterinnen, doch Aven bemüht sich, zu lernen, auch wenn niemand ihm etwas beibringen will. Er lebt bei den Priesterinnen, wagt sich so weit in den Tempel, wie es ihm als Mann gestattet ist, und hält sich dabei im Hintergrund. Er beobachtet und weiß mehr, als er selbst glaubt – und er hat bereits eine tiefe Verbindung zur Göttin, als er sich entschließt, seinen Körper anpassen zu lassen, um endlich eine Priesterin sein zu können. Den Ausschlag gibt der Abschied von Christine und der drohende Krieg, in dem Aven, die sich nun Ava nennt, zur Anführerin wird. Ihr Gegner erscheint übermächtig, unermesslich reich an Ressourcen und brutalem Expansionswillen. Doch Ava schmiedet einen verzweifelten Plan, um diesen Gegner zu Fall zu bringen.
Der Wasserplanet erinnert an „Avatar“ (es gibt auch eine Nebenfigur, die Cameron heißt), insbesondere die gigantische Fauna, mit der die Menschen in einem mystischen Gleichgewicht leben. Nahezu alles hier ist eine tödliche Gefahr, zugleich sind die Tiere unheimlich schön und faszinierend. Die Göttin ist allgegenwärtig, doch es gibt keine Bildnisse von ihr und die Menschen wagen es nicht einmal, ihren Namen, der zugleich der Name des Planeten ist, auszusprechen. Dennoch haben sie eine tiefgehende Verbindung zu ihrer Göttin und verlassen sich darauf, dass sie sie schützen wird. Ava muss jedoch erkennen, dass sie sich nicht allein auf die Göttin verlassen kann, sondern die Dinge selbst in die Hand nehmen muss. Die Göttin ist zugleich etwas durchaus Reales, aber auch mit religiösen Erwartungen und Ritualen beladen, die im Verlauf der Handlung aufgelöst werden. Und der Planet birgt weitere Geheimnisse, die Ava im Verlauf der Handlung nicht einmal ansatzweise ergründen kann.
"Ihr legt euch mit einer Welt an, deren Bewohner gelernt haben, in aller Heimlichkeit in der Hölle zu existieren. Nichts an diesem Planeten ist friedlich. Jeder noch so kleine Flecken Land wird pausenlos vom Meer bedroht und das Meer selbst ist ein permanentes Kriegsgebiet konkurrierender Tierarten. Nichts ist hier lange stabil, wenn die Wale auf ihren Wanderungen durch die Galaxie und entlang aller denkbaren Zeitachsen pausenlos neue bizarre Wesen einschleppen …“ (Seite 120)
Der natürlichen und mystischen Wasserwelt steht die sehr künstliche Erde gegenüber, die kein Schauplatz des Romans ist. Ihr Einfluss reicht jedoch weit in das Universum hinaus. Wichtig zu wissen: „Anahita“ spielt in einem Paralleluniversum, in dem transdimensionale Würmer als Energiequelle entdeckt wurden und somit Technologie auf Basis von (Knochen-)Magie entwickelt wurde. Das britannische Kaiserreich lässt sich als eine Art futuristisch-magischer Steampunk beschreiben, entsprechend gibt es Kriegsmaschinen aus Kupfer, Dampfkutschen und Ballonschiffe. Sven Haupt verbindet unterschiedlichste (Sub-)Genres (Science Fantasy, Steampunk, Space Opera, Military SF, New Weird …) zu etwas ganz Eigenem, Einzigartigem. Wer bereits andere Romane von Sven Haupt gelesen hat, wird zudem viele kleine Verknüpfungen entdecken.
Bemerkenswert an „Anahita“ ist, dass es zwar auch einige spannende männliche Figuren gibt, die Protagonist*innen und die für die Handlung relevantesten Figuren jedoch Frauen bzw. nicht-binäre Personen sind. Selbst der britannische Inquisitor ist eine Frau, die jedoch überwiegend als „er“ angesprochen wird, da es sich beim Kaiserreich um ein Patriarchat handelt, in dem die Rollen klar festgelegt scheinen. Es ist jedoch für Frauen durchaus möglich, Positionen von Männern einzunehmen, wobei sie dann schlicht wie Männer behandelt werden, ihre Weiblichkeit also unsichtbar gemacht wird. Überhaupt basiert die Kultur des Kaiserreichs auf Unsichtbarkeit: Menschen tragen in der Öffentlichkeit Masken, die ihren gesellschaftlichen Status spiegeln und die Menschen dahinter unsichtbar machen. Und selbst ihr Gott, der Uhrmacher, ist nicht greifbar, denn ihre Religion basiert auf der Suche nach diesem Uhrmacher und erfindet pausenlos neue Praktiken und Rituale, die die Leere dieses Glaubens überdecken.
Alles, was man von Britannien sieht, ist Oberflächlichkeit und Hybris, Militär und Technologie, die in der Natur scheitert. Für die Geschichte ist es nicht wichtig, mehr zu sehen, dennoch hätte man gerne die futuristischen Steampunk-Städte auf der Erde gesehen und Christine abseits des Militärs in der Gesellschaft erlebt. Es scheint schlicht noch so viel in diesem Universum zu entdecken zu geben, so viele Geschichten zu erzählen, dass die knapp 400 Seiten des Romans zu wenig erscheinen. Im Prinzip erzählt Sven Haupt in „Anahita“ eine Geschichte, die locker eine ganze Trilogie ausfüllen könnte, die jedoch durch mehrere Zeitsprünge komprimiert wird. Zudem erfährt man vieles, was passiert ist, nur in Dialogen und gerade bei den gewaltvollen Erfahrungen drücken sich die Figuren vage aus, was das Grauen kaum schmälert – eher steigert. Der Roman ist an manchen Stellen überraschend brutal, oft durchdrungen von dem feinsinnigen, tiefgründigen Humor, den man von Sven Haupt kennt, und in seiner Bildsprache schlicht atemberaubend.
„Auf Neid folgt Gier und der Wunsch nach Macht. Das Ergebnis ist Konkurrenzdenken. Es führt zu einer Auslese, die Menschen bevorzugt, die alles in ihrem Leben dem Erfolg unterordnen, und bevor du richtig begreifst, was passiert ist, endest du mit einer Gesellschaft voller Soziopathen, die einem Irren mit einer Uhr auf dem Kopf hinterherrennen.“ (Seite 131)
„Anahita“ eignet sich vor allem für Leser*innen, die sich wenig für Genregrenzen interessieren und die Fantasyelementen und Metaphysik in der Science Fiction gegenüber aufgeschlossen sind. Dass Sven Haupt auch Religion und Spiritualität mit Humor schildert, erleichtert den Zugang, dennoch lassen sich tiefere Wahrheiten in diesem Buch finden, das im Kern von Macht, Widerstand und Selbstwirksamkeit handelt. Während dem Lesen gibt es so viel zu entdecken, so vieles, woran man sich erinnert fühlt, was man verstanden zu haben glaubt - und doch fühlt es sich an, als hätte man vieles verpasst. Mehrmaliges Lesen dürfte sich lohnen.
Fazit
“Anahita“ ist ein weirder Mix aus Space Opera, Steampunk und Military SF und erzählt von einer mystischen Wasserwelt, deren Megafauna und Menschen von einer Göttin beschützt und von einem interstellaren Kaiserreich mit einer gewaltvollen Religion angegriffen werden. Sven Haupt begeistert einmal mehr mit phantastischer Metaphorik, kreativem Worldbuilding und außergewöhnlichen Held*innen, die sich voll verzweifelter Hoffnung einer Übermacht stellen.
Pro und Contra
+ atemberaubend schöne, gefährliche Wasserwelt
+ steampunkige Space Opera voll kreativer Ideen
+ starke Protagonist*innen, die mit sich selbst kämpfen und ihren Weg finden
+ die besondere Verbindung zwischen Christine und Aven/Ava
+ viele beeindruckende Frauenfiguren
+ der für Sven Haupt typische feinsinnige, ironische Humor
+ faszinierende Megafauna inklusive transdimensionaler Wesen
+ erzählt von Macht und Widerstand und dem Scheitern der Hybris
+ erzählt viel über das Wesen von Religionen und betont das eigene Nachdenken
- zu kurz geraten
Wertung:
Handlung: 4,5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5
Rezension zu "Wo beginnt die Nacht"
Rezension zu "Niemandes Schlaf"
Interview mit Sven Haupt (2024)