Während die Leipziger Buchmesse letztes Jahr im Schneechaos versank, ertappte ich mich am Donnerstag bei dem Gedanken, dass es ein Fehler war, vorsorglich mit Winterjacke und warmem Schal anzureisen, da ich zeitweise im T-Shirt draußen herumlaufen konnte. Allerdings lernte ich meine warme Kleidung zwischen Messe, Abendveranstaltungen und Unterkunft und auch am deutlich kühleren Sonntag wieder zu schätzen. Über dieses weitaus freundlichere Wetter als letztes Jahr freuten sich bestimmt die Cosplayer, die wieder in fantasievollen Kostümen, die das ganze Spektrum von absolut minimaler Bekleidung bis Ganzkörperrüstung oder -Fellanzug abdeckten, vor allem in Halle 1 strömten. Dort fand die Comiccon statt und es wurden Comics, Mangas, Fanartikel, Zeichenzubehör, japanische Süßigkeiten, Steampunk-Mode und noch viel mehr feilgeboten. Ich habe am Freitagmorgen dort vorbeigeschaut, war an den anderen Tagen aber davon abgeschreckt, wie voll und wuselig es in der Halle wurde. Da ich am Freitag etwas zu früh da war, stand ich mit vielen Gästen vor noch verschlossenen Glastüren und genoss die Atmosphäre der Vorfreude.
Meist war ich allerdings in der Phantastik-Ecke von Halle 2 unterwegs und nutzte es voll aus, dass ich als Autorin Zugang zur Lounge des Phantastik Autoren Netzwerks (PAN e.V.) hatte. Hier gab es Kaffee, Tee und von unermüdlichen Standhelfer*innen immer wieder aufgefüllte Schalen mit Snacks – vor allem aber viele großartige Gespräche. Natürlich entstanden dabei auch – nicht ganz ernstgemeinte – Plotideen: Sabrina Železný, die am Samstag aus ihrem „Inkapunk“-Roman „Feuerschwingen“ vorlas, möchte die Völkerfantasy um „Die Lamas“ erweitern, und ich habe mit Laura Dümpelfeld und Alessandra Reß (glaube ich) über das ultimative Phantastiksubgenre-Crossover „Zombie-Elfen im Weltraum“ gewitzelt.
Diese Leipziger Buchmesse stand ganz im Zeichen aktueller Debatten in der Phantastikszene. Drei Mitglieder des Nornennetzes hielten ein Panel zum Thema Diversität und Repräsentation in Phantastik und mussten dabei den Spagat dazwischen meistern, dass sie vor Menschen sprachen, von denen sich viele bereits eingehend mit dem Thema beschäftigt hatten, aber mindestens genauso viele eben noch nicht. Meiner Meinung nach ist ihnen das gut gelungen, weil sie zwar viele bekannte Punkte ansprachen, z.B. die Bedeutung von gründlicher, respektvoller Recherche, aber den Fokus weniger auf die in diesem Zusammenhang am häufigsten diskutierten Themen von sexueller Identität und/oder Orientierung und Ethnie gelegt haben, sondern ausführlich auf die Darstellung von Menschen mit Behinderung eingegangen sind.
Auch bei der Verleihung des „Seraph“, des Literaturpreises der Phantastischen Akademie, am Spätnachmittag wurde ein Thema angesprochen, das gerade viele Menschen in der Szene beschäftigt: die (noch ausbaufähige) Sichtbarkeit von Science-Fiction-Autorinnen. Der von Theresa Hannig initiierte und von vielen Autor*innen leidenschaftlich unterstütze Versuch, diese mit einer entsprechenden Wikipedia-Liste zu fördern, stieß auf verblüffenden Widerstand (und einige herablassende Kommentare) in der Wikipedia-Community. Das wurde natürlich nicht unkommentiert hingenommen, sodass dieses Thema gerade wohl nicht nur meinen Twitter-Feed dominiert und auf der Messe sehr präsent war.
Auf der Seraph-Shortlist machten Autorinnen allerdings mehr als zwei Drittel der Nominierten aus. Während beim Indie-Seraph mit „Hexensold“ und „Das Erbe der Rauhnacht“ von Birgit Jaeckel, das dann auch gewann, zwei düstere Märchen- bzw. Sagenadaptionen vertreten waren, waren viele der anderen Titel Science-Fiction-Romane oder Dystopien – und auch in den Regalen der Verlage sah es ganz so aus, als gäbe es neben einer kontinuierlichen Entwicklung zu Phantastik, deren Verfasser*innen zunehmend einen wachen Blick auf die politischen Implikationen ihrer Texte haben, auch wieder einen Aufschwung der Science Fiction. Außer Birgit Jaeckel gewannen Bernhard Hennen (Bestes Buch: „Die Chroniken von Azuhr – Der Verfluchte“) und Kris Bryn (Bestes Debüt: „The Shelter – Zukunft ohne Hoffnung“).
Wenige Stunden später lasen die drei Gewinner*innen im Werk zwei vor hunderten Zuschauern aus ihren Büchern vor. Ebenfalls auf der Bühne: etablierte Stars der Szene wie Kai Meyer, der mit „Das Fleisch der Vielen“ eine Horror-Geschichte vorstellte, die von dem Musiker ASP und dem Comiczeichner Jurek Malottke adaptiert wurde, oder Markus Heitz, der in „Die dunklen Lande“ die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges mit Fantasy- und Horrorelementen verflechtet. Monika Peetz, die ihre Schreibkarriere als Drehbuchautorin begann, stellte ihren Zeitreise-Jugendfantasy-Roman „Das Herz der Zeit“ vor, Lena Kiefer präsentierte ihre Jugenddystopie „Ophelia Scale – die Welt wird brennen“ und Maja Ilisch las den atmosphärischen Prolog zu „Die Neraval-Sage – Das gefälschte Siegel“ vor. Mit Maja konnte ich mich am übernächsten Tag ausführlich unterhalten. Wir sprachen unter anderem über eigenwillige Figuren, die Entstehung ihres Covers und die Schwierigkeit, unverkennbar zu kommunizieren, dass ein Charakter asexuell ist.
Der Messefreitag fand für mich mit der Lesung aus „Dunkle Ziffern“ einen sehr emotionalen Abschluss. Die von der Geschichte der Künstlerin Napolde inspirierte Anthologie ist ein Herzensprojekt der Herausgeberinnen Isa Theobald, Diana Kinne und Fabienne Siegmund. In Holger Kliemannel von „Edition Roter Drache“ fanden sie einen Verleger, der sich sofort für die Idee einer Benefizanthologie für die Opfer sexueller Gewalt begeistern ließ. Da viele der Autor*innen, die, teils schonungslos direkt, teils in phantastische Bilder verpackt, Geschichten von Traumata, aber auch deren Überwindung erzählen, selbst entsprechende Erfahrungen gemacht hatten, wurde es ein Abend voller Tränen und Umarmungen.
In Halle 5, in der neben viel politischer Literatur auch diverse Veranstaltungen für im Literaturbetrieb Beschäftigte (oder die, die es werden wollen) angeboten wurden, hörte ich mir am Samstag einen Vortrag zum erfolgreichen Bewerben auf Stellen in Verlagen und einen zum Urheberrecht an. Ich hatte auch Gelegenheit, ausführlich mit Jenny-Mai Nuyen zu sprechen, deren neuestes Buch, „Die Töchter von Ilian“, erst vor kurzem bei Fischer Tor erschienen ist. Am Abend war ich jedoch zu müde, um den Heyne-Fantasyabend an der Bahnhofsbuchhandlung zu besuchen, den ich eigentlich eingeplant hatte – schließlich wollte ich ja für meine Lesung am Sonntag ausgeschlafen sein.
Diese lief überraschend gut – mir wurden erst danach die Knie weich. Anschließend unterhielt ich mich noch lange mit Bernhard Hennen über Lesungen und das surreale Gefühl, wenn die Autor*innen, die einen einst für Phantastik begeistert haben, plötzlich Kolleg*innen sind. Dann folgten Abschiedsszenen, die mich ein wenig an den Brexit erinnerten: Ich verabschiedete mich vorsorglich von anderen Autor*innen, nur, um ihnen dann doch nochmal über den Weg zu laufen. Schließlich machte ich mich schwer beladen auf den Heimweg – obwohl ich mir vorgenommen hatte, mich bei dieser LBM zurückzuhalten, hatten es dann doch vier Bücher und allerlei anderes in meine Tasche geschafft.