Liebe Leser*innen,
ein weiteres Jahr neigt sich dem Ende zu, in dem ich wieder viel mehr lesen wollte, als ich letztlich geschafft habe. So geht es wahrscheinlich den meisten von Euch - es gibt einfach wahnsinnig viele interessante Bücher, was natürlich sehr gut ist, aber uns regelmäßig in Verzweiflung stürzt, weil wir nicht alle davon lesen können. Manche entpuppen sich nach anfänglicher Begeisterung als Enttäuschung, andere überraschen positiv und bei manchen bekommt man genau das, was man erwartet hat, und seufzt nach dem Lesen zufrieden auf. 2023 habe ich viele gute Bücher gelesen und nur wenige haben mich enttäusch, es war insgesamt ein vielseitiges Lesejahr mit einem SF-Schwerpunkt für mich. Fünf Titel haben mich besonders begeistert:
"Niemandes Schlaf" von Sven Haupt
"Wo beginnt die Nacht" lag viel zu lange auf meinem Bücherstapel und wurde im Sommer diesen Jahres endlich gelesen bzw. in drei Tagen durchgesuchtet. Ich war sehr angetan von den phantastischen Ideen, der Poesie und dem hohen Grad von Verknüpfungen innerhalb der Story, ein wirklich großartiges, surreales, berührendes Leseerlebnis. Erfreulicherweise musste ich dann auf "Niemandes Schlaf" nicht lange warten und der Roman hat mich umgehauen. Cyberpunkelemente und New Weird verschmelzen zu einer unfassbar kreativen, wunderschönen Geschichte über Blumen, die viral gehen, konvergierende Welten und einer Protagonistin, die mit jeder Seite schwindet und dabei mehr sie selbst wird. Sven Haupt hat einen tollen, feinsinnige Humor und verbindet Science Fiction mit Philosophie und Metaphysik. "Niemandes Schlaf" erzählt von Entmenschlichung und Menschlichkeit in einer sterbenden Welt, in der es unerwartet viel Hoffnung gibt.
"Dies ist mein letztes Lied" von Lena Richter
Diese wundervolle SF-Novelle habe ich bereits in mehreren Jahresrückblicken entdeckt - zu Recht! "Dies ist mein letztes Lied" ist eine beeindruckende Reise durch unterschiedlichste SF-Welten und führt Protagonist*in Qui unter anderem zu einem erbitterten Krieg, auf ein Generationenschiff, zu einer verheerenden Katastrophe, in eine rein virtuelle Welt und zurück in den Hyperkapitalismus. Während der Reise wächst Qui spürbar, erkennt die Grenzen der eigenen Möglichkeiten und bewahrt sich dabei Empathie und Menschlichkeit. Qui findet Freunde und die große Liebe, trifft viele wunderbare Menschen und erlebt, wie andere aus reiner Profitgier dem Tod überlassen werden. Trotz aller Verzweiflung und Wut, die in der Geschichte stecken, ist "Dies ist mein letztes Lied" eine hoffnungsvolle Novelle, die tief berührt und nachdenklich stimmt.
"Neurobiest" von Aiki Mira
Im letzten Jahr gehörte "Neongrau" zu meinen Highlights - "Neurobiest" hat eine Verbindung zu diesem Roman, ist quasi eine Vorgeschichte, jedoch mit ganz anderen Figuren und einem anderen Schwerpunktthema: Synthetische Biologie. Die Klimakatastrophe nimmt ihren Lauf und viele Lebewesen sind ihr bereits zum Opfer gefallen. Die Menschheit versucht nun mit Hilfe synthetischer Biologie das Leben an die sich radikal verändernden Umweltbedingungen anzupassen. Und natürlich wird die neue Technologie auch fleißig für Körpermodifikationen und fragwürdige Experimente genutzt. Protagonistin Aruke ist eine Biohackerin, die im synthetischen Biom des Amazonas Teil eines Experiments war. Gemeinsam mit der Mega-Celebrity Riva Lux ergründet sie ihre Vergangenheit und findet heraus, was all dies für ihre Zukunft bedeutet. Darüber hinaus ist "Neurobiest" wie auch sein Vorgänger "Neongrau" ein beeindruckendes Porträt zukünftiger Jugendkultur und man hat nicht nur das Gefühl, auf eine mögliche Zukunft zu schauen, sondern mittendrin zu sein. Aiki Mira ist für mich eine der aktuell besten SF-Autor*innen und das Warten auf den nächsten Roman ist bereits jetzt eine Tortur.
"Die Prinzessinnen - Helden und andere Dämonen" von Christian Endres
In diesem Jahr habe ich relativ wenig Fantasy gelesen, mich zieht es momentan stärker zur Science Fiction. Bei Christian Endres' Prinzessinnen mach ich gerne eine Ausnahme, denn bereits der erste Band war einfach wahnsinnig unterhaltsam. Hier trifft märchenhafte Fantasy auf Grimdark und jede Menge derben Humor. Die fünf Protagonistinnen sind alle Prinzessinnen - und Söldnerinnen, die sich durch Monsterhorden metzteln, Prinzessinnen retten und toxische Männer das Fürchten leeren. Der zweite Band "Helden und andere Dämonen" hat mir nochmals besser gefallen, hier stimmt alles von der ersten bis zur letzten Seite. Den Prinzessinnen passiert das Schlimmste, was sie sich vorstellen können: Ein Held kreuzt ihre Wege und sie sollen dem arroganten Kerl als Leibwächterinnen dienen. Dieser Held führt sie geradewegs in eine Schlacht gegen Dämonen und lange weiß man nicht, ob ihn die Dämonen zuerst erschlagen oder die Prinzessinnen, die die Selbstverliebheit des Helden, der seine besten Tage hinter sich hat, kaum ertragen können. Die Prinzessinnen sind unheimlich sympathische, derbe Frauen, die sich in einer brutalen Welt mit Brutalität ihre Freiheit erkämpfen. Hoffentlich erscheint bald ein dritter Teil!
"Das lange Morgen" von Leigh Brackett
Mit dem Carcosa Verlag gibt es einen großartigen neuen Kleinverlag, der sich überwiegend phantastischen Klassikern widmet. Das Programm besteht quasi nur aus Highlights, aber am meisten beeindruckt hat mich bisher "Das lange Morgen": Eine Postapokalypse, die auf den ersten Blick fast friedlich erscheint, auf den zweiten jedoch ein kollektives Trauma offenbart, das nach wie vor Leid verursacht. Wir befinden uns in den USA etwa hundert Jahre nach einem Atomkrieg, der zwar gewonnen wurde, aber das Land in die Frühe Neuzeit zurückkatapultiert hat. Religiöse Sekten dominieren das Land und die in ganze Generationen eingebrannte Angst treibt die Menschen zu Gewalt gegen alle, die ihre Art zu leben in Zweifel ziehen und sich nach dem Wissen und der Technologie vor der Zerstörung sehnen. "Das lange Morgen" ist eine Comig-of-Age-Story, in der Protagonist Len immer wieder menschliche Grausamkeit erlebt, die umso erschreckender ist, da man sie nachvollziehen kann. Er sucht nach Wissen und findet es - und fragt sich, ob dieses Wissen sein Leben ruiniert hat. Ein beeindruckender Roman, der mich sehr nachdenklich zurückgelassen hat.
Fürs nächste Jahr sind bereits wieder großartige Bücher in Sicht. Ich bin gespannt, ob sich meine Erwartungen erfüllen werden und freue mich ebenso auf all die unerwarteten Buchjuwelen. Und nun gehe ich schauen, welche Bücher andere 2023 beeindruckt haben :)
Viele Grüße
- Judith