Liebe Leser*innen
Erst wenn wir stolpern achten wir auf den Weg. Meine Geschenktipps für die anstehenden Weihnachtstage sind Bücher von drei Personen: einem Chinesen, einer Japanerin und einem Unvermeidlichen.
Jin Yong (1924-2018), der Louis Cha Leung-yung hieß, ist einer der bekanntesten und meistgelesenen Schriftsteller Chinas, aber hierzulande ein Unbekannter. Seine Bücher waren und sind heute noch Vorlagen für Spielfilme, Fernsehserien und Videospiele. Sein Epos von den Adlerkriegern umfasst in China zwölf Bände. Ende der 1950er Jahre erschienen als Serie in einer Tageszeitung, wurde die Fantasy-Saga später zweimal vom Autor überarbeitet, 1976 und 2003 neuveröffentlicht, und zählt heute zur Weltliteratur.
Die Adlerkrieger-Trilogie, bestehend aus "Die Legende der Adlerkrieger", "Der Schwur der Adlerkrieger" und Der Pfad der Adlerkrieger (Rezension folgt), spielt zur Zeit der südlichen Song-Dynastie (1127-1279), welche sich im Krieg mit dem nördlichen Jin-Reich befindet. Die beiden Protagonisten Guo Jing und Yang Kang geraten im Handlungsverlauf in ein unübersichtliches politisches Spektakel und müssen sich mit mächtigen Gegnern auseinandersetzen. Die mächtigsten Gegenspieler sind sie jedoch einander. Die Handlung wird angereichert durch wunderbare Nebenfiguren wie die Sieben Sonderlinge des Südens, darunter Ke Zhen’e, einen blinden Kämpfer, Fliegende Fledermaus genannt; Huang Rong, eine so geheimnisvolle wie brilliante Kung-Fu-Kämpferin, die verkleidet durch das Land zieht; oder Mei Chaofeng und ihren Mann Chen Xuanfeng, die Zwillingsmörder der Dunklen Winde.
Die Adlerkrieger-Trilogie ist ein sehr empfehlenswertes Werk über Krieg und Liebe, über den Weg zur inneren Selbstvervollkommnung, die Suche nach einem verschollenen Buch, das den Schlüssel zur Unbesiegbarkeit enthalten soll, den Kampf einzelner Menschen gegen korrupte politische und bürokratische Strukturen.
Es liefert einen Einblick in die Geschichte und eine fremde Kultur. Erzählt wird es als eine komplexe Kung-Fu-Oper. Ein Werk von hoher erzählerischer Qualität, das trotz seiner literarischen Bedeutung in China sechzig Jahre brauchte, um den Weg in unsere Sprache zu finden. Dafür erhalten wir heute drei schön gearbeitete Paperbacks mit hilfreichen Anhängen und einem Personenverzeichnis, völlig staubfrei aus der Originalsprache übersetzt von der Sinologin Karin Betz und erhältlich zu einem akzeptablen Preis.
Der zweite Tipp ist ein japanischer Kriminalroman, "Die Aosawa-Morde" von Riku Onda. In einem kleinen Ort an der japanischen Westküste geschah im Jahr 1973 ein Massenmord. Die bekannte Familie Aosawa und ihre Gäste wurden während einer Geburtstagsfeier mit Zyanid in den Getränken vergiftet. Siebzehn Menschen starben, nur die 11-jährige blinde Hisako überlebt. Der Getränkelieferant beging Suizid und wurde vor allem aufgrund seiner Abschiedsnachricht als Täter identifiziert. Elf Jahre später interviewte Makiko Saiga, eins der Kinder, die die Mordopfer seinerzeit gesehen haben, Menschen aus dem Umfeld der Aosawas und veröffentlichte ein Sachbuch (True Crime) zu dem Fall.
In der Gegenwart, rund 30 Jahre nach dem Mordgeschehen, werden Personen interviewt, die irgendetwas mit dem Mordfall oder mit Makiko Saigas Buch zu tun hatten. Der Roman besteht aus 14 Kapiteln, von denen ein jedes eine andere Erzählstimme hat. Die Autorin gestaltet aus den Charakteren und Perspektiven ein organisches Ganzes. Durch perspektivische Verschiebungen wird der mysteriöse Fall im Wortsinn immer wieder neu ausgeleuchtet. Onda setzt mehrere Theorien über den Mord nebeneinander. Sie sind in geringem Maße durch Fakten gestützt, spekulativ und natürlich auch durch ihre Urheber*innen bestimmt. Zwangsläufig stellt sich die Frage nach der Wahrheit, In der Summe ergeben sich ein paar begründete Mutmaßungen und begründete Zweifel. Der formal beeindruckende und vielschichtige Krimi ist ein anregendes und unterhaltsames Vexierspiel. Er enthält ein Glossar mit japanischen Begriffen.
Der letzte Tipp ist Stephen Kings gerade erschienener Roman Fairy Tale", ein Märchen mit Horrorelementen über den 17-jährigen Charlie Reade aus dem ländlichen Illinois. Er hat seine Mutter verloren, die Opfer eines Autounfalls mit Fahrerflucht war, lebt mit seinem Vater zusammen, der den Alkoholismus überwunden hat und kümmert sich, nach dessen Sturz von der Leiter, um seinen alten Nachbarn Howard Bowditch und dessen arthritische Schäferhündin Radar. Auf dem Grundstück des Nachbarn befindet sich ein Weltenbrunnen, Zugang in die Anderwelt, die Charlie magisch anzieht. In dieser Welt gelten andere Gesetzmäßigkeiten, und Charlie muss sich dort dem Bösen stellen.
Schon der allgemein gehaltene Buchtitel deutet an, dass eine dieser Geschichten erzählt wird, die auf die eine oder andere Weise zu allen Zeiten erzählt werden und als Fundgrube für Joseph Campbells Klassiker Der Heros in tausend Gestalten Verwendung gefunden haben könnte. Charlie ist ein Jugendlicher auf einer Heldenreise in der Anderwelt. Es gibt reichhaltige Bezugnahmen auf Märchen und das Werk Kings, außerdem jede Menge popkulturelle Verweise. Vor allem aber erzählt Stephen King eine großartige und detailfreudige Geschichte.
Vielleicht ist ja für euch etwas dabei.
Liebe Grüße, Almut
Geschenktipps 2011: ~*~*~ Teil 1 ~*~*~ Teil 2 ~*~*~ Teil 3 ~*~*~ Teil 4 ~*~*~
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